Im Bann des Eichelhechts. Axel Hacke
milde Mandarinencreme, sie bedeckt dein Gesicht wie eine Gurken-Minze-Maske, sie nuckelt an deiner Epidermis wie ein Schröpfglas und lockert deine Fußreflexzonen wie ein kundiger Masseursdaumen.
Du isst sie. Du atmest sie ein.
Diese Zeit ist gut zu dir, Verwöhnminute für Verwöhnminute.
Frau W. aus Cottbus schrieb mir einmal, ihr Lebensgefährte habe als kleiner Junge, vor damals mehr als fünfzig Jahren, mit seinem Bruder zusammen einen Kriegsfilm im Fernsehen gesehen. Das sei in der DDR gewesen und ziemlich grauenhaft, Bomben, Explosionen, Getöse. Auf dem Höhepunkt des Ganzen sei der Opa ins Zimmer gekommen und habe gesagt:
»Ja, das war früher.«
Danach sei die Zeit vergangen, eines Tages sei es Frühling geworden, die beiden Buben und der Großvater waren im Garten, und der Opa habe sich in der Sonne gerekelt und gesagt:
»Jetzt ist Frühjahr.«
Schreiend seien die beiden weggerannt, um sich zu verstecken.
Sie hatten verstanden:
»Jetzt ist früher.«
Und gedacht, jetzt kämen die Bomben und alles werde wie im Film. »Die Aufklärung der Geschichte«, so W., »ließ lange Zeit auf sich warten, denn obwohl gründlich von den Eltern befragt, waren die Jungen vor Entsetzen verstummt.«
Jetzt ist früher.
Das ist interessant.
Denn es klingt nach Zeitmaschine. Opa sitzt im Garten und sagt Jetzt ist früher. Man muss sich ja nur mal vorstellen, das würde wirklich funktionieren, früher muss ja nicht Bombenkrieg bedeuten, es könnte auch etwas anderes sein, Opas Hochzeitstag oder die schönste Sommerwoche des Jahres 1956, oder es könnte auch sein, dass jemand Jetzt ist morgen ruft, und man bekommt plötzlich eine Vorstellung der Zukunft, von Silvester 2038 vielleicht oder solche Sachen, wäre das nicht interessant?
Früher ist jetzt. Morgen ist gestern. Heute ist einst.
Man muss es ja nicht machen, aber als Möglichkeit – immerhin!
In Sprachland geht’s!
ZAHLEN
Leser W. aus Staufen berichtete mir von einer Äußerung seines damals vierjährigen Sohnes, der plötzlich, wie aus dem Nichts sagte: Es gibt gerade und gebogene Zahlen.
Da haben wir es!
Was?
Folgendes: Jeder Mathematiker, ja, schon jeder Rechenlehrer wird uns etwas über gerade und ungerade Zahlen erzählen können. Von den gebogenen Zahlen indes weiß er nichts. Wir wissen alle nichts darüber, weil Sprachland gerade erst richtig entdeckt wird.
In der traditionellen Mathematik sind die geraden Zahlen jene, die ohne Rest durch zwei teilbar sind, alle anderen Zahlen nennt man ungerade. 2 und 4 und 6 und 8 sind zum Beispiel gerade, 1 und 3 und 5 und 7 ungerade. In Sprachland aber werden die Zahlen nach anderen Kategorien geordnet, gerade und gebogen eben.
Eine 1 zum Beispiel ist eine kerzengerade Zahl, auch eine 4 und eine 11.
Aber es überwiegen ganz klar die gebogenen Zahlen, schon die 0 ist ja komplett gebogen, auch die 3 und die 8, herrlich gebogen sind sie.
Bei der 2 und der 7 könnte man sagen: Es sind Mischformen, teils bestehen sie aus geraden Strichen, teils aus gebogenen Linien. Ob es aber solche Mischformen wirklich gibt, also quasi geradegebogene Zahlen – ich weiß es nicht, dazu kenne ich mich noch nicht gut genug aus. Ich müsste den Sohn meines Lesers W., fragen, der ist ja inzwischen auch älter und größer.
Vielleicht weiß er nun noch mehr?
Einmal ist es mir gelungen (auf dem Bahnhof von Andernach war das), eine komplette Zuglieferung gebogener Zahlen zu fotografieren, sie kamen gerade aus der Nullenfabrik, vermute ich. Wohin es mit ihnen gehen sollte, konnte ich nie in Erfahrung bringen. Vielleicht zur Zentralbank?
Vokabeln
TEHATA
Ich hatte in Nienburg an der Weser zu tun, im Theater, um genau zu sein, stieg am Bahnhof in ein Taxi und nannte mein Ziel.
Isskla, Scheff, Tehata, sagte der Fahrer, der ganz klar ein Sprachländer war.
Ja, genau, zum Theaaaaterrrr also, sagte ich, damit er mich nicht falsch verstünde.
Isskla, Scheff, Tehata.
Und so fuhren wir denn.
Und kamen auch an. Ich bezahlte, bekam meine Quittung. Auf der stand, handgeschrieben, Bahnhof – Tehata, also die Fahrtstrecke.
Dieses Wort Tehata habe ich seitdem in meinen Sprachschatz übernommen, es klingt einfach so schön. Man muss es ein bisschen hauchen, die beiden letzten Silben einfach nur aus dem vorderen Mundraum heraussprechen, dann klingt es am besten.
Sprechen Sie mir nach!
Mach doch nicht so ein Te-hata!
Ich habe später nachgeschaut und entdeckt, dass es im indischen Bundesstaat Westbengalen eine Stadt namens Tehatta gibt, die manchmal auch Tehata geschrieben wird. Sie hat (Stand allerdings 2011) 21.093 Einwohner, vier Schulen und ein Government College. Ich konnte nicht herausfinden, ob es in Tehatta ein Tehata gibt, aber ich versichere Ihnen: Nienburg an der Weser hat eines.
ESSEN
Eines Tages fiel mir beim Stöbern in der Post vieler Jahre das Bild einer Speisekarte in die Hand, darauf das Gericht Nummer 29 mit dem Titel Der Konzernüberschuss »Meunière«.
Das fand ich interessant.
Ich glaube, dass in den besten Restaurants der Welt schon einige Konzernüberschüsse verfressen worden sind. Andererseits muss man wohl sagen: Die Überschüsse vieler Konzerne waren in den vergangenen Jahrzehnten oft so hoch, dass sie selbst von den gierigsten Schlünden kaum in einem Restaurant aufzuzehren waren.
Was mich faszinierte, war aber nun, dass der Überschuss als solcher auf der Karte stand – und zwar à la Meunière, also nach Müllerinart, in Mehl gewendet, in Butter gebraten, mit Zitrone, Petersilie und brauner Mandelbutter serviert. Wie ist es möglich, dass etwas eigentlich Abstraktes wie ein Überschuss derart konkret und fein zubereitet werden kann?
Zunächst muss man sagen: Das Gericht heißt im Englischen »Meunière« Grouper steak, das ist ganz einfach ein Zackenbarschsteak auf Müllerinart. Nun liegt der Gedanke nahe, dass sich hier beim Übersetzen ein Fehler eingeschlichen haben könnte, das englische group ist ja tatsächlich im Deutschen der Konzern. Aber der Überschuss ist in der Vokabel steak beim besten Willen nicht zu entdecken.
Es bleibt ein Rätsel.
Es sei denn …
Es sei denn, man entschlösse sich, es als Tatsache zu nehmen, dass hier tatsächlich einfach Konzernüberschüsse gebraten beziehungsweise verbraten werden.
Dann wäre alles klar.
Und so wollen wir es halten.
Zumal ich von vielen anderen Speisekarten in dieser Haltung bestätigt worden bin. Zum Beispiel trage ich seit vielen Jahren eine Karte des Restaurants Fontana d’Oro in Como mit mir herum. Jemand steckte sie mir einst nach einer Lesung zu, und ich halte sie stets gerne in meiner Tasche bereit, um darin zu lesen und daraus zu zitieren. Sie