Verkörperter Wandel. Martin Witthöft
Blockademechanismus: Starre – blockierte Qualität: Pulsation
Wenn Kinder keinen anderen Weg finden, als sich den Erwartungen der Eltern zu unterwerfen, können große seelische Konflikte entstehen. Die Psychologin und Psychotherapeutin Verena Kast beschreibt Depression in diesem Sinne als das Ende einer langen Anpassungsphase (Kast 2009). Unbewusst möchte sich das Kind gegen die Eltern abgrenzen, erlebt sich hierfür aber in einem zu großen Abhängigkeitsverhältnis. »Der Depressive ist durch unbewusste Schranken von ›du sollst‹ und ›du sollst nicht‹ eingesperrt, die ihn isolieren, die ihn eingrenzen und schließlich seinen Geist überwältigen« (Lowen 1979).
Das zunächst gegen die Eltern gerichtete Gefühl der Aggression wird dadurch zu einem verfolgenden Objekt, das als bedrohlich erlebt wird. Weil das Kind die entstandene Aggression nicht nach außen wenden kann, richtet es sie schließlich gegen sich selbst. So wird Depression in der Psychoanalyse auch als eine Form der Autoaggression betrachtet. In dieser Dynamik gefangen, kann sich ein Mensch bis ins Erwachsenenalter als hilf-, macht- und kraftlos erleben, unfähig, die eigenen Bedürfnisse der Welt gegenüber zu vertreten. »Die Unfähigkeit zu reagieren unterscheidet den Zustand der Depression von allen anderen Gemütszuständen« (Lowen 1979).
Die Überwindung der Blockaden
Karuna: Mitgefühl entwickeln und Desidentifikation erreichen
Mark Williams, Zindel Segal und John Teasdale haben an der Bangor University in Wales das Center for Mindfulness Research and Practice gegründet und das MBCT-Programm (Mindfulness Based Cognivitiv Therapy) entwickelt. Studien belegen diesem Verfahren eine gute Wirksamkeit in der Rückfallprävention von Depression.
In MBCT-Gruppen lernen die Teilnehmer*innen, sich durch die wiederholte Übung in Achtsamkeit und Mitgefühl nicht länger mit den eigenen dysfunktionalen Gefühlen und Gedanken zu identifizieren. Auf diese Weise können sie sich zunehmend von limitierenden Denkschemata und Glaubenssätzen befreien.
Um es zu ermöglichen, unterdrückte Gefühle zu erforschen, ist eine gefestigte, vertrauensvolle Beziehung zwischen Klient*innen und Begleiter*innen notwendig: »Wem es an Vertrauen fehlt, der hat all seine Gemütsbewegungen unterdrückt. An ihre Stelle hat er eine Reihe von Ansichten oder Illusionen gesetzt, die sein Verhalten lenken und steuern« (Lowen 1979). Der Klient kann nur auf Grundlage des Vertrauens in die Therapeuten-Klienten-Beziehung lernen, sich zu öffnen: »Die therapeutische Aufgabe besteht darin, dem Patienten zu helfen, seinen Weg zu Selbstliebe und zur Selbstannahme zu finden und ein Vertrauen zu sich selbst zu entwickeln, dass er an die Stelle dessen setzen kann, was er von seinen Eltern nicht bekommen hat« (Lowen 1979).
Wenn uns Patanjali im Yogasutra den folgenden Hinweis gibt, ist es nur naheliegend, dass wir uns auch selbst die genannte, heilsame Haltung entgegenbringen:
»Citta, unsere Psyche, wird allmählich klar, wenn wir aus innerer Überzeugung [uns] jeweils freundlich, mitfühlend, begeisterungsfähig und verzeihend gegenüber Menschen verhalten, die sich in Situationen des Glücks, des Unglücks, des Lobenswerten oder des Ächtenswerten befinden« (Sriram 2006).
Yogasutra 1.33
Wir werden die besondere Bedeutung dieses Verses für die integrative Yogapsychologie später noch ausführlicher betrachten.
Erst in einer Beziehung, die von Annahme und Verständnis geprägt ist, können Klient*innen lernen, sich von der Identifikation mit Symptomen und Glaubenssätzen zu befreien. Die Aufgabe des Begleitens, sei es in Coaching oder Therapie, ist es, diesen heilsamen Raum zu gestalten.
Drashta: Achtsamkeit im Umgang mit den eigenen Gefühlen entwickeln
Wenn im Laufe der therapeutischen Arbeit die Wahrnehmung des/der Klient*in freier von seinen/ihren Wertungsmustern und Identifikationen wird, entsteht allmählich die Fähigkeit zu annehmendem Gewahrsein. »Die Qualität von Achtsamkeit ist nicht ein neutrales oder leeres Anwesend-Sein. Wahre Achtsamkeit ist durchtränkt von Wärme, Mitgefühl und Interesse. Im Lichte dieser hingebungsvollen Aufmerksamkeit entdecken wir, dass es nicht möglich ist, etwas oder jemanden, das oder den wir wahrhaftig verstehen, zu hassen oder zu fürchten. Das Wesen der Achtsamkeit ist Hingabe: Wo Interesse ist, da folgt eine natürliche, ungezwungene Aufmerksamkeit« (Feldman/Kornfield 2004). Das gilt für den Blick auf die Welt wie auch für den Blick auf uns selbst.
Eine im Vertrauen pulsierende Achtsamkeit trägt in sich die Kraft, das Geschaute anzunehmen. Bei einer Depression werden das in erster Linie unterdrückte Gefühle sein. Doch das bedeutet nicht, dass der/die Klient*in sich nun über die neu entdeckten Emotionen definieren sollte.
»Der draṣṭṛ sieht ausschließlich, er ist standhaft und ohne jegliche Veränderung, kann aber nur aufgrund der über das citta (des meinenden Selbst) vermittelten Eindrücke sehen« (Sriram 2006).
Yogasutra 2.20
Stattdessen geht es darum zu lernen, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse fühlend zu erkennen, um sie von externen Erwartungen zu unterscheiden. Wir müssen lernen »(…) wieder in Kontakt mit unseren Gefühlen zu kommen – mit denen, die wir mögen, mit denen, die wir nicht mögen, und mit denen, von denen wir nicht wissen, dass wir sie haben« (Williams et al. 2009).
Die Bedeutung des Körpers: Lernen, sich der Pulsation hinzugeben
Zu diesem Kontakt gehört selbstverständlich auch die heilsame Erfahrung des Körpers. Was wir geistig und emotional unterdrücken, müssen wir im Körper kontrollieren. Denn jeder Gedanke, jedes Gefühl wird immer von einem körperlichen Impuls, einem Ausdruck begleitet. So beobachtete Alexander Lowen in seiner Arbeit mit depressiven Menschen: »Wenn jemand mit seinem Körper in Fühlung kommt, eröffnet sich ihm eine neue Art, sich selbst zu verstehen, die sich allmählich in Selbstannahme verwandelt« (Lowen 1979).
Die Beziehung zwischen Klient*in und Begleiter*in findet in der Körperarbeit einen wichtigen Ausdruck. Während Klient*innen bisher in Konzepten, Konstrukten und kognitiven Verzerrungen gelebt haben, erleben sie nun Erdung und Realität, und nirgendwo ist die Realität unmittelbarer zu erfahren als auf der Ebene des Körpers. Voraussetzung dafür sind ein gewachsenes Vertrauen und der achtsame Respekt vor Grenzen. Dann kann der/die Klient*in auf der muskulären Ebene die Mechanismen der Kontrolle entdecken und lernen, sich wieder spontanen Impulsen zu überlassen.
Lowen geht dabei weiter, als es gegenwärtig in der Praxis von Psychotherapie und Coaching üblich ist: »Jeder Patient braucht es, dass man ihn berührt, und das gilt besonders für den depressiven Patienten. Indem man ihn berührt, ruft man seine Gefühle wach. Dadurch, dass man mit ihm in Fühlung ist, drückt man sein Mitgefühl und Verständnis aus, und indem man ihn physisch mit Wärme und Gefühl berührt, lässt man ihn seine eigene Liebe spüren« (Lowen 1979).
Annehmendes Gewahrsein: Das Selbst
Es ist es notwendig, dass sich Körper, Gefühle und Gedanken in der achtsamen Annahme des Mitgefühls verbinden. Denn aus der Mitte dieser drei entspringt jenes Leben, das der Depressive bisher so schwer zulassen konnte. »Dann stellen wir fest, dass wir gut für uns sorgen können, indem wir einfach alles, was wir gerade empfinden, in unserem Gewahrsein annehmen und bejahen – in einem Gewahrsein, das von Qualitäten wie Güte, einer sanften Aufgeschlossenheit und Interesse an allem durchdrungen ist, was sich in uns selbst zeigt, was immer es auch ist« (Williams et al. 2009).
Diese Art von Gewahrsein beschreibt den Begriff des Selbst, wie ich ihn verwende: Das Selbst sorgt für sich selbst, wenn wir nur bereit sind, uns dem, was innerhalb und außerhalb von uns geschieht, achtsam und mitfühlend hinzugeben. »Wir müssen auf unsere inneren Forderungen und Beweggründe hören und sie erkennen. Wir müssen berührt sein und uns hingezogen fühlen, für das, was uns wichtig ist zu sorgen« (Samy 2005).
Es ist die Verbindung all der voneinander getrennten