Verkörperter Wandel. Martin Witthöft

Verkörperter Wandel - Martin Witthöft


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wir es zulassen, können wir aus den scheinbar chaotischen Tiefen des Unbewussten äußerst inspirierende und unterstützende Orientierung erhalten.

      2 Eigene Gedanken und innere Bilder annehmen: Selbst zunächst befremdlich oder bedrohlich erscheinende Gedanken sind, richtig verstanden, Teil eines heilsamen Wachstumsprozesses. Erst die Bereitschaft, eigene Gedanken anzunehmen, ermöglicht die Entfaltung ihres unbewussten Potenzials.

      3 Eigene Gedanken und innere Bilder wahrnehmen: Gedanken wahrnehmen bedeutet, ein Bewusstsein für unsere häufig unbewusst ablaufenden Gedankenprozesse zu haben. Das ist die Voraussetzung, frei von einschränkenden Gedankenmustern und Glaubenssätzen zu sein.

      Die Felder sieben, acht und neun bilden die geistige Dimension des Menschen ab. Hier geht es um Kreativität und Inspiration wie künstlerische Schaffenskraft oder Visionen zukünftiger Lebensgestaltung. Wenn dieser »Kanal« offen ist, reicht unsere Kreativität weit über bewusste Geistesinhalte hinaus.

      Ein freier, offener Geist schöpft aus der Gesamtheit seiner bewussten und unbewussten Inhalte. Selbst normale Alltagsgedanken können dieses Potenzial haben. Plötzlich auftauchende, mitunter abwegig erscheinende Gedanken ermöglichen uns, etwas über unsere Seelenlage zu erfahren. Solche Einblicke tauchen noch unzensiert von der Wertungskontrolle auf. Aber auch wenn die Inhalte anscheinend nicht zu uns passen und die Neigung entsteht, sie zu verurteilen und abzulehnen, ist es hilfreich, sie zuzulassen, zu verstehen und ihre Motivationen anzunehmen. Eine zu rigide Wertungsinstanz verhindert den geistigen Ausdruck unserer Seele.

      Mithilfe dieser neun Felder ist es uns möglich zu erkennen, wo wir in unserer Entwicklung stehen, wo eventuelle Schwierigkeiten liegen und wie wir Zugang zu geeigneten Ressourcen finden, die uns helfen können, diese Schwierigkeiten zu lösen. In den neun Feldern findet sowohl unsere persönliche als auch spirituelle Dimension ihren Ausdruck. Zudem erweitert die Praxis mit den Orientierungsfeldern das Vertrauen in unser Selbst, denn sie gründet sich in seinen Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation.

      Die Qualitäten und ihre Blockaden

      Wie wir gesehen haben, steht jeder der Qualitäten ein grundlegender Blockademechanismus gegenüber: der Achtsamkeit die Wertung, dem Mitgefühl die Identifikation und der Pulsation die Starre. Die unten abgebildete Grafik führt das nochmals vor Augen. Sind diese Blockaden wirksam, können die Qualitäten sich nicht frei entfalten.

      Verhindert ein Blockademechanismus (Wertung) den Zugang zu einer Qualität (Achtsamkeit), können wir die verbleibenden Ressourcen der beiden anderen Felder (Mitgefühl und Pulsation) nutzen, um uns aus der Blockade zu befreien. Sind zwei der Qualitäten blockiert, ist es möglich, mit der verbleibenden zu arbeiten. Und selbst wenn alle drei Ressourcen beeinträchtigt sind, wird es immer eine geben, zu der der Zugang am leichtesten fällt.

      Implikationen für die Selbsterfahrungsarbeit

      Die dargestellten sechs Felder sind Grundlage einer nachhaltigen Persönlichkeitsentwicklung. Der Begriff »Persönlichkeit« leitet sich von lat. personare, »hindurchtönen«, ab. Als personae wurden die Masken der Schauspieler im klassischen griechischen Drama bezeichnet. Persönlichkeitsentwicklung können wir somit als das schrittweise Durchdringen bzw. Abnehmen von Masken verstehen. Unsere Masken sind dabei ursprünglich im Laufe des Lebens entstanden, um uns zu schützen und verletzliche oder abgelehnte Persönlichkeitsanteile zu verbergen. Häufig identifizieren wir uns mit bewährten Masken, was zu einem starren, unflexiblen oder neurotischen Charakter führen kann.

      Der Kern einer Existenz, ihr beseelter Grundstoff, ist dagegen die Essenz oder das Selbst. Selbst-Erfahrung findet statt, wenn es uns gelingt, durch die Masken der Persönlichkeit unser Selbst zu erkennen und zu erfahren. Die neun Orientierungsfelder fördern das Erleben des unverstellten Ausdrucks unseres Seins. Diese Selbst-Erfahrung kann nicht forciert werden. Es ist die Erfahrung der Weite, die entsteht, wenn wir uns ungebunden und jenseits von Wertung in der Welt bewegen.

      In meiner persönlichen Praxis, meinen privaten Beziehungen und in der Selbsterfahrungsarbeit mit Gruppen und einzelnen Klient*innen erlebe ich immer wieder, wie unterstützend die Felder beim Erkennen der jeweils wirkenden Blockaden und freien Qualitäten sind.

      Umgekehrt kommt es in der psychologischen Unterstützung und Begleitung von Klient*innen maßgeblich auf meine Bereitschaft an, sie wahrzunehmen, ihren Ausdruck zuzulassen und anzunehmen. Häufig tauchen, wenn sie auf diese Weise eingeladen werden, Gedanken, Gefühle und Impulse auf, die zunächst destruktiv und abwehrend erscheinen können. Dabei geht es nicht darum, einen destruktiven Impuls gutzuheißen, denn auch das wäre eine Wertung.

      Es braucht vielmehr das Bemühen, entstandene Impulse liebevoll anzunehmen und ihr tieferliegendes Anliegen zu verstehen. Je vorbehaltsloser mir das gelingt, umso leichter fällt dies auch den Klient*innen. Wenn sie die Impulse dann ihrerseits wahrnehmen, zulassen und annehmen, beginnen sie sich zu wandeln. So entsteht ein Prozess, dem mit der beschriebenen Haltung immer weiter gefolgt wird. Anstelle der Masken und der somatischen Verpanzerung offenbart sich dann zunehmend das Vertrauen in die ausgleichende Kraft der eigenen Impulse, Gedanken und Gefühle.

      Natürlich sind das zum Teil sehr langwierige Prozesse, die durch unterschiedliche Techniken unterstützt werden können. Doch im Kern ist es das kompromisslose Vertrauen in die gestaltenden Kräfte Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation, das uns zurück zu uns selbst und in den Kontakt mit der Welt führt.

      Eine tiefe Auseinandersetzung mit den Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation hat Konsequenzen für alle Lebensbereiche. Sie ist Grundlage von Psychotherapie, Selbsterfahrungsarbeit, Pädagogik, Politik, Ökologie, Ökonomie und jeder Form sozialer Beziehung. Sie ermöglicht ein ausgewogenes Handeln aus der Mitte von Körper, Emotion und Geist. Aus dieser Mitte entspringt die Balance zwischen Mensch und Natur, zwischen technischem Fortschritt und natürlichem Lebensraum sowie zwischen dem persönlichen Bedürfnis nach Freiheit und sozialer Integration.

      Übung

      Ganzheitliches Gewahrsein

      Dauer: ca. 15 Minuten

      Material: Stift und Zettel/Tagebuch

      Diese Übung kann dich dabei unterstützen, einen bewussten, annehmenden und ganzheitlichen Selbst-Kontakt aufzubauen. Ihre Struktur führt in einzelnen Schritten von deinen Gefühlen über den Körper bis zur Ebene des Geistes. Nach meiner Erfahrung bieten unsere Emotionen dabei einen guten Einstieg. Letztendlich ist die Reihenfolge für das Ergebnis nicht wichtig. Beobachte und folge dem, was dir guttut.

      Versuche, so gut es dir möglich ist, dich nicht mit den unterschiedlichen Erfahrungen zu identifizieren oder ihre Inhalte zu werten. Wenn du es nicht verhindern kannst, beobachte auch das, ohne dich zu beurteilen.

      Für die Übung ist es hilfreich, wenn du eine konkrete Situation oder die Beziehung zu einem Menschen wählst. Das Ziel ist aber nicht, die Lösung eines Konflikts oder die Antwort auf ein Problem zu finden. Dazu kommen wir später. Zunächst wollen wir einfach versuchen, uns möglichst vollständig zu erfassen und anzunehmen, wertfrei und verständnisvoll.

      1. Die emotionale Ebene

       Im ersten Schritt geht es darum, dich innerlich mit der gewählten Situation oder Person zu verbinden. Stell sie dir möglichst bildhaft und detailreich vor. Verweile hier einen Augenblick.

       Nimm nun wahr, welche Emotionen mit der Vorstellung in dir aufkommen. Wie fühlst du dich? Gibt es mehrere oder vielleicht auch widersprüchliche Gefühle? Gibt es einen Ort im Körper, an dem du sie am deutlichsten wahrnehmen kannst? Kannst du ein Bedürfnis erkennen, das mit den Emotionen in Verbindung steht?

       Notiere dir alle Aspekte. Beobachte, ob es dir möglich ist, die entstandenen Emotionen anzunehmen, ohne dich mit ihnen zu identifizieren oder sie zu werten.


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