Verkörperter Wandel. Martin Witthöft

Verkörperter Wandel - Martin Witthöft


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       Verbinde dich mit erneut mit der Situation oder Beziehung.

       Wie erlebst du dich in deinem Körper? Tauchen Empfindungen auf? Kannst du wahrnehmen, wo im Körper du eine Reaktion spürst? Gibt es den Impuls zu einer Bewegung? Was möchte dein Körper tun? Kannst du ein Bedürfnis hinter dem Impuls oder der Bewegung erkennen?

       Notiere dir alle Aspekte.

       Beobachte, ob es dir möglich ist, die entstandene Erfahrung einfach anzunehmen, ohne dich mit ihr zu identifizieren oder sie zu werten.

      3. Die geistige Ebene

       Verbinde dich ein drittes Mal mit der Situation oder Beziehung.

       Tauchen Gedanken oder Bilder auf? Beeinflusst das Thema den Zustand deines Geistes? Wird er beispielsweise klar oder neblig, optimistisch oder pessimistisch, ruhig oder sprunghaft?

       Notiere dir alle Gedanken, Bilder und Reaktionen, die du wahrnehmen kannst.

       Beobachte, ob es dir möglich ist, die entstandenen Reaktionen anzunehmen, ohne dich mit ihnen zu identifizieren oder sie zu werten.

      Versuche, alle Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, die während der Übung auftauchen, einfach da sein zu lassen. Wie der indische spirituelle Lehrer­ ­Nisargadatta Maharaj sagt: »Durch die uneingeschränkte Akzeptanz von Allem, was möglicherweise auftaucht und somit ganz einfach vorhanden ist, bestärken Sie alles Tieferliegende, an die Oberfläche zu kommen und dadurch Ihr Leben und das Bewusstsein mit seinen eingeschlossenen Energien zu bereichern« (­Maharaj 2003).

      Solange wir Selbstanteile vor uns verbergen, sie verurteilen oder auf andere Weise abwehren, blockieren wir Wachstumsprozesse in uns. Wir müssen uns selbst vollständig annehmen, um uns entwickeln zu können. Daher gehört in der yogapsychologischen Arbeit mit Klient*innen, egal ob in der Einzel-, Paar- oder Gruppen­arbeit, dieser zutiefst annehmende Blick zu unserer Grundhaltung.

      Vom Yogasutra zur Psychopathologie: Eine yogapsychologische Brücke

      Das Yogasutra, eine Sammlung von knapp 200 Versen, die dem Gelehrten Patanjali zugeschrieben werden, ist ein wichtiger Quellentext der integrativen Yogapsychologie. Sutra bedeutet »Faden«, und so verbinden sich auch die einzelnen Texte wie aufgereihte Perlen zu einer kostbaren Kette. Obwohl Entstehungszeit und Autor nicht letztgültig gesichert sind, wird die die Entstehung des Yogasutra auf die Zeit zwischen 200 v. und 400 n Chr. datiert.

      In der Zusammenstellung des Yogasutra verbanden sich unterschiedliche geistig-spirituelle Strömungen. Hervorzuheben ist das schon erwähnte Sankhya, das als eine philosophische Grundlage diente. Aber auch der zu dieser Zeit in Indien äußerst populäre Buddhismus ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Verbindung ist in beeindruckender Weise praxisorientiert und psychologisch relevant.

      In welcher Beziehung stehen die oben vorgestellten Entwicklungsfelder zum Yoga? Rufen wir uns den folgenden Satz von Patanjali in Erinnerung:

      »Yoga ist der Zustand, in dem die Bewegungen des citta (des meinenden Selbst) in eine dynamische Stille übergehen« (Sriram 2006).

      Yogasutra 1.2

      Auch wenn Citta häufig ausschließlich mit Geist übersetzt wird, gehe ich im Folgenden davon aus, dass damit unsere gesamte Psyche gemeint ist: unser Denken und Fühlen. Hierdurch erhält das Yogasutra psychologische Tiefe.

      Kurz darauf schreibt Patanjali:

      »In anderen Situationen beeinflussen die Bewegungen des citta (des meinenden Selbst) die Erscheinungsformen des draṣṭṛ (des sehenden Selbst)« (Sriram 2006).

      Yogasutra 1.4

      Drashta steht für den Zeugen und Beobachter, unsere Achtsamkeit sowie das Gewahrsein. Gemeint ist Folgendes: Wenn die Psyche aus der Balance gerät, beginnt ihr einseitiger Zustand unsere Wahrnehmung zu beeinflussen. Starke Gefühle und starre Glaubenssätze wirken wie Filter vor unserem geistigen Auge. Sind wir niedergeschlagen, wird uns eine schöne Wiese einsam und verlassen erscheinen. Wenn wir uns ängstlich fühlen, lauern in ihrem Gras schmerzhafte Dornen, Insekten und andere Gefahren.

      Die Praxis des Yoga führt unserer Psyche in ihre dynamische Balance. Dann können wir die Wiese wieder als das erkennen, was sie ist: ein lebendiges, vielseitiges und einzigartiges Biotop. In der Klarheit des Zeugen verbinden sich der Beobachter und das Beobachtete zu einer Einheit. Jiddu Krishnamurti schreibt: »Wenn es nur noch die Beobachtung der Tatsache gibt, dann wird sich die Tatsache radikal verändern« (­Krishnamurti 2001). Wir erkennen: Wir sind ein Teil der Wiese. Wir sind die Natur. Wir sind das Leben.

      »Durch abhyāsa (beharrliches Üben) und vairāgya (Gleichmut) kann die dynamische Stille des citta (…) erreicht werden« (Sriram 2006).

      Yogasutra 1.12

      Im folgenden Abschnitt möchte ich die Bedeutung der drei Qualitäten und ihrer Entwicklungsfelder am Beispiel von Depression und Angststörung veranschaulichen.

      Depression

      Blockademechanismen und blockierte Qualitäten

      Blockademechanismus: Wertung – blockierte Qualität: Achtsamkeit

      Psychologische Modelle beschreiben negative Schemata und Überzeugungen als Hauptursache für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Depression (Beck 1999). Im Yogasutra heißt es:

      »Verblendung führt zu verkehrtem Wissen; der Gegenstand der Betrachtung wird anders verstanden, als er ist« (Sriram 2006).

      Yogasutra 1.8

      Durch bestimmte Denk- und Verarbeitungsmuster kommt es also zu einer Verzerrung der Realität. Becks Modell der Depression beschreibt verschiedene sog. »Denkfehler«, die zu einer negativen Einstellung führen. Das Yogasutra nennt in diesem Zusammenhang den Begriff Viparyaya, der falsche Wahrnehmung oder Verblendung bezeichnet. Die meisten aus Viparyaya hervorgehenden Denkfehler beruhen auf einer starken Bewertung der Realität. Die Form der Bewertung beeinflusst die Wahrnehmung und damit indirekt die Handlungsimpulse.

      Blockademechanismus: Identifikation – blockierte Qualität: Selbstannahme

      Wenn wir uns mit den negativen Inhalten unserer Gedanken unbewusst oder starr identifizieren (Samyoga), betrachten wir sie nicht länger als eine Möglichkeit. Stattdessen werden sie für uns zu objektiver Realität.

      »Die Ursache des Leidens ist saṃyoga, die Anbindung des sehenden Selbst an das Objekt, das gesehen wird« (Sriram 2006).

      Yogasutra 2.17

      So erlebt sich ein depressiv gestimmter Mensch oft als unterlegen und fehlerhaft, kritisiert fortwährend die eigenen Leistungen, wertet sie ab und verkennt vorhandene Fähigkeiten. »Die Tatsache, dass wir diese schädlichen, verzerrten Gedanken in Bezug auf uns selbst oft als unanfechtbare Wahrheit ansehen, zementiert die Verbindung zwischen gedrückten Gefühlen und selbstkritischen Gedankengängen (…)« (Williams et al. 2009).

      Hier geht es um die Identifikation mit unserem falschen Selbst, denn der Depressive hat nicht genug Vertrauen in seinen natürlichen Ausdruck. Stärker noch: Er hat Angst vor den eigenen Gedanken, Gefühlen und Impulsen. Alexander Lowen schreibt: »Die Unterdrückung des Gefühls schafft eine Prädisposition für die Depression, da sie das Individuum daran hindert, sich auf seine Gefühle als Leitlinie seines Handelns zu verlassen« (Lowen 1979). Im weiteren Krankheitsverlauf kommt es stattdessen zu einer Identifikation mit den belastenden Gefühlen der Depression selbst. Dies zieht erneut negative Bewertungen nach sich, die von der erlebten Realität scheinbar bestätigt werden.

      Damit schließt und stabilisiert sich der depressive Kreislauf. Die Abwehr von gesunden Gefühlen und Impulsen verhindert sowohl ein Ausbrechen


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