Verkörperter Wandel. Martin Witthöft

Verkörperter Wandel - Martin Witthöft


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mit den Gesetzen von Farbe und Licht auseinandergesetzt. Mit der additiven Farbsynthese, einem physiologischen Vorgang zwischen Auge und Gehirn, ist es möglich, aus dem farbigen Licht der drei Primärfarben Rot, Grün und Blau jede andere Farbe zu mischen. Werden diese drei in geeigneter Helligkeit addiert, entsteht in ihrem Zentrum die Farbempfindung Weiß. Weiß ist somit die eigenschaftslose Summe, die Essenz aller Farben.

      Wenn wir diese Grundfarben nun mit den Qualitäten Mitgefühl (Grün), Achtsamkeit (Blau) und Pulsation (Rot) assoziieren, steht in ihrem Zentrum, durchdrungen von Licht, unser Sein: die Grundlage unserer Existenz (Weiß), der eigenschaftslose Purusha. Im Folgenden nenne ich diesen Schnittpunkt das »Selbst«. Dieses reine Licht (puruṣa) ist die Basis all unserer emotionalen, geistigen und körperlichen Erfahrungen, die Ursache all unserer Farben, das Fundament des Bewusstseins. Eine Abbildung dazu findest du auf der vorderen Umschlaginnenseite (Abb.3).

      Wenn wir die Frage stellen »Wer bin ich?«, dann erklingt in uns die primärsubstanzielle Erfahrung des »Ich bin!«. Sie ist stets in uns, gleich wie es uns geht, wie alt wir sind oder in welcher Situation wir uns befinden. Wenn wir wollen, können wir jederzeit Kontakt mit diesem beständigen, bedingungslosen Urgrund in uns aufnehmen. Es braucht nur einen Moment der Besinnung, der Stille und des Zurücksinkens in die Essenz. Wenn du dir die Frage »Wer bin ich?« stellst, dann erklingt die nonverbale Antwort »Ich bin!«, das Erleben des Seins.

      Ramana Maharshi nannte diese schlichte Praxis Selbstergründung (Atma Vichara). Der Geist kehrt dabei zu seinem Ursprung zurück. Noch vor den positiven Erfahrungen unserer individuell geprägten Biografie ist dieses Sein die Basis des Urvertrauens, das warme und beständige Gefühl sicheren Eingebundenseins.

      Das Farbspektrum der Welt: Purusha trifft auf Prakriti

      Der erste Ausdruck des an sich eigenschaftslosen Selbst sind die Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation. Im Mitgefühl weitet sich das Selbst in unsere emotionale Dimension, in der Achtsamkeit konstituiert es sich in unserem geistigen Feld und über seine lebendig ­pulsierenden Wellen ist es mit der Welt und ihrer Pulsation verbunden. Trifft das reine, eigenschaftslose Licht des Purusha auf Prakriti, bricht es sich in ihr wie in einem Prisma, und das gesamte Farbspektrum der Welt beginnt sich zu entfalten.

      Die integrative Yogapsychologie geht von der Annahme aus, dass die drei Qualitäten Pulsation, Mitgefühl und Achtsamkeit grundsätzlich in jedem Menschen vorhanden sind. Daher betrachte ich sie nicht als Fähigkeiten, sondern als eine Art Grundausstattung. Dabei besitzt jede dieser Qualitäten einen aktiven, erlernbaren Aspekt, der uns den Zugang zu ihr ermöglicht oder zumindest erleichtert.

      Werfen wir im Folgenden einen Blick auf das Wesen dieses unmittelbaren Selbst-Ausdrucks.

      Rot: Tamas, Pulsation Und Rhythmus –Die körperliche Ebene

      Die Farbe Rot steht für unseren Körper. Wir erinnern uns: Prakriti, die Natur, besteht laut Sankhya aus den drei Eigenschaften Tamas, Rajas und Sattva – den Gunas. Wenn wir diese Gunas nicht als ein hierarchisches, wertendes Prinzip im Sinne von besser oder schlechter verstehen, verkörpert Tamas die Materie, das Feste, Stoffliche, unseren Körper.

      Doch auch Materie ist immer in Bewegung: innerlich auf der Ebene der Moleküle und nach außen im Kontakt mit der Umgebung. Das gilt auch für unseren Körper. Er ist die stoffliche Grundlage für unser inneres Erleben, unsere Gefühle, unseren Geist und zugleich eine Brücke in die äußere Welt. Durch die Sinne des Körpers nehmen wir unsere Umgebung wahr und können in Beziehung zu ihr treten.

      Wie können wir lernen, in der Welt, im Außen zu sein, ohne uns selbst zu verlieren? Oder andersherum: Wie können wir für uns selbst da sein und zugleich in Kontakt mit der Welt bleiben? Ganzheitlichkeit schließt immer beides ein. Es ist nicht leicht, diese Gleichzeitigkeit zu denken, aber vielleicht gelingt es uns, sie zu fühlen.

      Genau hier öffnet sich der Weg. Prasava bedeutet Geburt, Ausfaltung, Entwicklung. Während dieser Evolution entfalten sich die Elemente (Gunas) und lassen unser vielgestaltiges Universum erscheinen. Prasava beschreibt die Entstehung des Lebens, der Natur, von uns. Im Tantra werfen wir uns in dieses Leben regelrecht hinein: Bhukti Mukti lässt sich als »Befreiung durch Genuss« übersetzen. So heißt es im ­Vijnana Bhairava Tantra: »Im Glücksgefühl sinnlicher Freude das Denken gestillt – mit solcher Freude eins wird sie zur Seligkeit« (VBT 49). Der Bhogi genießt die Welt und ihre Erscheinungen, er geht eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit ihr ein. Diese Liebe öffnet ihn in das Selbst.

      Der Begriff Pratiprasava steht Prasava gegenüber und beschreibt die Wiedereinfaltung der Elemente, ihre Gegenströmung oder ihren Rückfluss. Pratiprasava steht damit auch für die Vergänglichkeit. Im Yoga oder in der Achtsamkeitspraxis lernen wir, uns zu sammeln, unsere Sinne nach innen zu richten und zu uns zurückzufließen. In dieser Sammlung geben wir unserer Seele die Möglichkeit, tiefgehend zur Ruhe zu kommen.

      Wie Patanjali schreibt, erscheint das Selbst, wenn unsere Psyche zur Ruhe kommt (Yogasutra 1.2). Der fünfte Schritt seines achtgliedrigen Pfades besteht im Zurückziehen unserer Sinne nach innen, um uns aus dieser Sammlung für die Wahrnehmung des Selbst zu öffnen (Yogasutra 2.54, 2.55).

      Entscheidend ist die Pulsation: Wir leben im ständigen Wechsel von Werden und Vergehen, zwischen Prasava und Pratiprasava. Der Körper macht es uns möglich, uns nach der Welt auszustrecken oder uns von ihr zurückzuziehen – und ist zugleich ein Teil von ihr (Boadella 1991). Wilhelm Reich widmete sich in seiner Arbeit Die Ausdruckssprache des Lebendigen ausführlich dem Phänomen der rhythmischen Pulsation als Merkmal von Lebensenergie (Reich 1971).

      Der Biologe Max Hartmann beobachtete bei seinem Studium von Amöben, wie sie sich nach einigen Objekten ausstreckten und von anderen zurückzogen. Selbst im Ruhezustand sind in Amöben winzige, pulsierende Bewegungen zu beobachten (Boadella 1991). Einzeller wie die Amöbe können aus dem direkten Kontakt mit der Umwelt die Energie ziehen, die sie brauchen.

      Mehrzellige Lebewesen benötigen dafür einen zirkulierenden Kreislauf. In der Embryonalentwicklung des Menschen entsteht der Blutkreislauf noch vor dem Herzen. Staguhn schreibt in seinem Buch Das Herz. Ein geheimnisvolles Organ: »Nicht das Herz bewegt das Blut, sondern das Blut bewegt das Herz (…) Der gesamte Organismus ist Herz (…) Damit ist der Organismus nichts anderes als verkörperter Rhythmus, verkörperte Pulsation« (Staguhn 1999).

      Bereits bei wenigen Millimeter großen Embryonen beginnen jene Zellen, die später das Herz bilden werden, rhythmisch zu pulsieren. Sowohl die Herz- als auch die Skelettmuskulatur pendelt nun ein Leben lang zwischen den Polen der Anspannung und Entspannung, der Kontraktion und Streckung. Sie ermöglichen das Heben und Senken von Brustkorb und Zwerchfell wie auch die Pulsation der Atmung. Das nach der Geburt von der Nabelschnur getrennte Leben beginnt mit der ersten Einatmung (Inspiration) und endet im Sterben mit der letzten ­Ausatmung (­Exspiration). Folglich kann der ganze Lebenszyklus als eine große Pulsation verstanden werden.

      Auch bei anderen physischen Prozessen stoßen wir auf dieses Prinzip des Lebendigen. Das peristaltische Pulsieren der Gedärme wird durch Signale der vegetativen Nerven gesteuert. Weiter tragen Hormone zum Pulsationsmuster des menschlichen Körpers bei, indem sie Erregung verstärken oder verringern.

      Auf der individuellen Ebene sehen wir den Ausdruck der Pulsation besonders deutlich im Muskeltonus, da das Spannungsmuster von Muskulatur und Atmung dem »Schwingungsmuster« von Geist und Emotion entspricht (Lowen 1981). Ein gesunder Muskeltonus pulsiert zwischen Anspannung und Entspannung. So entsteht im Anschluss an eine Ruhephase Bewegungsdrang und nach längerer Aktivität das Bedürfnis nach Ruhe und Regeneration.

      Gefühle, wie beispielsweise Angst, können dazu führen, dass sich unsere Muskulatur anspannt. Angst ist eine Warnung vor Gefahr und versetzt unseren Organismus in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft. Bei Wut, die ebenfalls zu einer Anspannung unserer Muskulatur führt, bereitet sich der Körper auf einen möglichen Kampf vor. Wenn wir uns hingegen erschrecken, ziehen wir uns zusammen


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