Verkörperter Wandel. Martin Witthöft

Verkörperter Wandel - Martin Witthöft


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und psychischen Phänomene zugrunde: Sattva, das helle, leichte und heitere Prinzip, Rajas, das stimulierende, leidenschaftliche und bewegliche Prinzip sowie Tamas, das unbewegliche, verbergende und stoffliche Prinzip. Aus ihrem Mischungsverhältnis entfaltet sich die gesamte, für uns bekannte und unbekannte Welt.

      Mit seinen feinstofflichen Eigenschaften entspricht Sattva auch unserem geistigen Ausdruck, dem Bewusstsein, der Unterscheidungsfähigkeit und Vorstellungskraft. Rajas, mit seiner Leidenschaft und Hitze, verweist auf die Emotionalität, unsere Gefühle inklusive ihrer zur Handlung drängenden Energie. Die stoffliche, materielle Dimension von Tamas dagegen bezieht sich auf die Grundlage unseres Körpers wie Haut, Muskeln, Knochen und Organe.

      So wie sich im Sankhya der gesamte Kosmos aus den drei Gunas und ihren verschiedenen Eigenschaften zusammensetzt, besteht auch der Mensch aus diesen drei Elementen. Dabei sind die Qualitäten der Gunas weder gut noch schlecht, sondern haben jeweils ihre eigene Aufgabe und Berechtigung im dynamischen Gleichgewicht der Kräfte.

      Entwicklungsbiologie

      Auch in der menschlichen Schöpfung steht die Begegnung von zwei gegenüberliegenden Polen am Anfang: des männlichen Prinzips und des weiblichen Prinzips.

      Die sexuelle Vereinigung beider ermöglicht, dass sich der männliche Samen mit der weiblichen Eizelle verbindet. Bereits in den ersten 24 Stunden nach der Empfängnis beginnt daraufhin die Zellteilung in der befruchteten Eizelle.

      Georg Feuerstein vergleicht die Gunas mit dem physikalischen Prinzip von Atom, Energie und Materie (Feuerstein 2008); Ralf Skuban bezeichnet sie in seinem Buch Die Psychologie des Yoga als »Schöpfungsmasse« (Skuban 2014). Mit dem Moment der Befruchtung der Eizelle entfalten die Gunas demnach ihr kreatives und zugleich hochgradig strukturiertes Potenzial.

      »Es ist unmöglich, zu wahrer Individualität zu gelangen, ohne im Ganzen verwurzelt zu sein.«

      David Bohm

      Die Inkarnation

      Sankhya

      Mit dem Beginn der Aktivität der Gunas erscheint im Sankhya zunächst unser geistiges Potenzial: Bewusstsein verbindet sich mit Materie. Die verschiedenen Eigenschaften des Bewusstseins werden im Antahkarana, dem »inneren Organ«, zusammengefasst. Dazu gehören Buddhi, die Intelligenz, Ahamkara, die Fähigkeit der Identifikation, und Manas, die Fähigkeit der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens.

      Entwicklungsbiologie

      Auf der embryologischen Ebene öffnet sich parallel dazu das Feld der Gastrulation (von griech. gaster, »Gefäß«). Aus dem ursprünglichen Zellkern entwickeln sich drei unterschiedliche Schichten oder Keimblätter. In jeder dieser winzigen Zellschichten ist bereits das Potenzial für die Ausgestaltung unseres gesamten Körpers enthalten (siehe Abb. 2).

      Auch wenn wir in diesem Stadium noch nicht von Intelligenz, Ego, Fühlen und Denken sprechen können, lässt sich doch sagen, dass hier das Feld der pränatalen Psychologie beginnt. Alles, was von nun an geschieht, kann Spuren in uns hinterlassen. Unser Denken und Fühlen sowie die Identifikation mit beidem sind jetzt zumindest angelegt. So sagte der britische Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert über die Gastrulation: »Es ist nicht die Geburt, die Hochzeit oder der Tod, sondern die Gastrulation, welche in Wirklichkeit der wichtigste Zeitpunkt in deinem Leben ist« (Wolpert 1998).

      Sowohl im Sankhya als auch in der Entwicklungsbiologie entsteht aus einem dualen Gegensatzpaar etwas eigenes, unabhängiges und zunächst nonduales Drittes. Schon heute hat die Wissenschaft den materiellen Aspekt dieses Vorgangs, bestehend aus Zellteilung und der anschließenden Neuorganisation von Erbmaterial, Organzellen und Zellinhalten durch einzelne, steuernde Enzyme, im Großen und Ganzen entschlüsselt. Welche Voraussetzungen jedoch erfüllt sein müssen, damit ein Bewusstsein, unsere Seele, in den entstehenden Körper einzieht, entzieht sich bisher jeder Kenntnis.

      Gegenwärtig können wir beobachten, wie auf der ganzen Welt zunehmend leistungsfähigere Computer entstehen. Gespannt wird dabei die Frage diskutiert, ob – und wenn ja, ab welchem Potenzial von Intelligenz – sich dabei eigenständiges, kreatives Bewusstsein entwickeln kann. Wann wird auf einem Display das erste kindliche, hochbegabte »Hallo – ist da jemand? Wer bin ich?« erscheinen? Doch während die ­Rechenleistung, zuletzt mit der Entwicklung von Quantencomputern, in kaum noch nachvollziehbare Dimensionen reicht, ist daraus bis heute kein selbstbewusstes Bewusstsein hervorgegangen.

      Möglicherweise braucht es dafür die Wechselwirkung zwischen Denken und Fühlen auf der Grundlage eines sinnlich erfahrenden Körpers. Auch im Sankhya erscheint die Natur (Prakriti) immer in Gestalt aller drei Gunas, und soweit wir wissen, ist die Gastrulation mit der Entstehung der drei Keimblätter Ausgangspunkt unserer Psyche.

      Bewusstsein ist sicherlich mehr als die Summe seiner Teile Denken, Fühlen und Handeln. Zugleich aber sind diese Teile scheinbar eine unverzichtbare Grundlage von Sein, das sich seiner selbst bewusst ist.

      Die Differenzierung

      Das entstandene Leben braucht einen eigenen Körper, um die Welt zu erfahren und sich in ihr ausdrücken zu können. Im anschließenden Prozess der weiteren Ausdifferenzierung offenbart sich in beiden Schöpfungstheorien noch eine bemerkenswerte Parallele. Die Grafiken weiter unten geben zu den Ausführungen einen Überblick.

      Sankhya

      Hier entsteht eine Differenzierung, die den entwicklungsbiologischen Prozessen auf faszinierende Weise genau entspricht. Beschrieben werden:

       Die Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane (Jnanendriyas): Zu ihnen gehören der Bereich der Gedanken und Gefühle (Manas) sowie die äußeren Wahrnehmungsorgane mit der Fähigkeit zu hören, zu sehen, zu riechen und zu schmecken.

       Die Handlungsorgane (Karmendriyas): Zu ihnen gehören die Fähigkeiten zu greifen, zu gehen, sich zu entleeren und zu zeugen.

       Die Energie (Tanmatra und Mahabhuta): Die Tanmatras werden als feinstoffliche Elemente oder subtile Form der Energie beschrieben. Aus ihnen gehen die Mahabhutas, verkörperte, grobstoffliche Energie in Form der Elemente Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde, hervor. In der traditionellen chinesischen Medizin haben die Elemente Wasser, Feuer, Erde, Holz und Metall außerdem einen direkten Bezug zum Organ- und Drüsensystem. Das schafft eine weitere Verbindung zur nun folgenden Entwicklungsbiologie und der Keimschicht des Entoderms.

      Entwicklungsbiologie

      Auf der entwicklungsbiologischen Ebene entfaltet sich der Mensch aus den drei oben bereits angesprochenen Keimblättern. Sie werden als Ektoderm, Mesoderm und Entoderm bezeichnet. Ihr Potenzial gestaltet sich, wie folgt:

       Die Wahrnehmungsorgane (Ektoderm): Aus diesem Keimblatt entwickeln sich Ohren, Augen, Nase, Haut, Zunge und das zentrale Nervensystem mit den Funktionen des Denkens.

       Die Handlungsorgane (Mesoderm): Aus dem Mesoderm entfalten sich unsere Handlungsorgane wie Arme, Beine, Muskeln, Knochen, Wirbelsäule, Herz und Geschlechtsorgane.

       Der Energiespeicher (Entoderm): Aus diesem Keimblatt entstehen Lunge, die Organe des Rumpfes und der Verdauung sowie unser Drüsen­system wie Pankreas, Schilddrüse und Thymus. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Emotionen und Drüsensystem verortet David Boadella die Gefühle im Bereich des Entoderms (­Boadella 1991).

      »Die Kraft, die den Körper erschaffen hat, kümmert sich auch um ihn.«

      Nisargadatta Maharaj

      Relevanz für die Yogapsychologie

      Die


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