Verkörperter Wandel. Martin Witthöft
meiner gestalterischen Arbeit, der Zeichnungen, Bilder und Installationen. Existiert ein alle Menschen und Wesen verbindendender Seinsgrund? In welchem Verhältnis steht dieser zur Individualität des Menschen, seinem freien Ausdruck?
Die kreative Auseinandersetzung führte mich über eine Weiterbildung zum Yogalehrer in eine fünfjährige Ausbildung, die sich mit der »Biosynthese«, einem somatisch und tiefenpsychologisch fundierten Verfahren, befasste. Obwohl sich der Schwerpunkt meiner Tätigkeit damit verlagerte, ich immer mehr mit Gruppen, Paaren oder im Einzelsetting arbeitete, blieben das Grundthema meiner Arbeit, ihr Motiv und ihre kreative Haltung identisch.
In den folgenden Jahren entwickelte sich die Einsicht, dass Yoga und Psychologie nicht nur voneinander profitieren – sie erschienen mir wie zwei Seiten derselben Praxis. In dieser Verbindung lagen die Antworten, nach denen ich gesucht hatte, und so begann ich ihre gemeinsame Essenz eingehender zu erforschen.
Die Traditionen des Yoga lehren uns die Verbindung zum Absoluten, unsere Heimkehr in das Ganze, das All-Eine. In der Psychologie beschäftigen wir uns hingegen mit den Beziehungen im Konkreten, zu uns selbst, den Menschen, Situationen und Dingen, die uns prägen.
Die vielleicht grundlegendste Verbindung zwischen dem Absoluten und Konkreten erleben wir in den Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und lebendiger Pulsation, dem prozesshaften Sein. Das dabei entstehende Akronym »MAP« verweist auf das englische Wort für »Karte«. So wurde auch die Idee der Orientierung ein Leitgedanke des vorliegenden Buches.
Entlang dieser Linie entstand in den vergangenen 20 Jahren eine eigenständige Methode: die integrative Yogapsychologie. Mit einem breiten Repertoire an Tools und Skills bildet sie heute die Grundlage für eine ganzheitliche yogapsychologische Beratung, yogapsychologisches Coaching und Yogapsychotherapie. Sie ist zugleich eine vielseitige Inspiration für die psychologische Erweiterung des klassischen Yogaunterrichts.
MAP-Sensing steht dabei für das feine, sinnliche und zugleich zielvolle Vorgehen beim Suchen, Finden und Begleiten eines letztendlich immer prozesshaften Weges.
Damit richtet sich dieses Buch einerseits an interessierte Yogapraktizierende, andererseits – und insbesondere – aber auch an professionelle Yogalehrende, Therapeut*innen, Berater*innen etc.
Jedes der Kapitel verbindet Erfahrungen und Einsichten der alten spirituellen Traditionen mit Erkenntnissen der modernen, zeitgenössischen Psychologie. Quellentexte des Yogasutra, der Sankhya Karika oder Bhagawadgita begegnen der modernen Neuropsychologie, Körperpsychotherapie, Charakteranalyse und anderen humanistischen Ansätzen.
Die einzelnen Abschnitte und ihre Inhalte sind aufbauend strukturiert, können aber immer auch einzeln und themenbezogen gelesen und verstanden werden. Die durchgängig begleitenden Übungen erlauben die eigene praktische Erfahrung, lassen sich aber auch problemlos auf Coaching- bzw. Unterrichtssettings übertragen. Illustrierende Fallbeispiele ermöglichen zudem ein Anwendungsverständnis für die Beratung, das Coaching oder die Psychotherapie. Die Personen in den Beispielen sind fiktiv und setzen sich aus Aspekten verschiedener Fälle zusammen.
Der Text ist in drei Teile gegliedert und behandelt die integrative Yogapsychologie von den Grundlagen bis zur Praxis:
Der erste Abschnitt beginnt mit einer vergleichenden Betrachtung von Entwicklungsbiologie und den Ursprüngen des Yoga. Über die Parallelität dieser Perspektiven entsteht ein erweitertes Verständnis der Ebenen Fühlen, Denken und Handeln. Anschließend folgt eine Einführung in die Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation mitsamt ihren spirituellen und psychologischen Dimensionen. Sie bilden die Grundlage der integrativen Yogapsychologie.
Der zweite Teil verbindet Aspekte des Yogasutra mit zeitgenössischen Erkenntnissen, insbesondere der Neuropsychologie, um ein eigenständiges, psychologisches Ressourcen- und Blockademodell zu entwickeln. Entlang der Chakren werden sieben Entwicklungsfelder vorgestellt, die eine klare Orientierung innerhalb der prozesshaften Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen.
Im letzten Abschnitt wird der Theorieteil in die Praxis überführt. Dabei steht jeder der Übungsbeschreibungen eine begleitende Einführung zur Seite. Diese sorgfältige Einbettung ermöglicht die Erweiterung der persönlichen Übungspraxis und bildet eine verantwortungsvolle Grundlage für die Übertragung in die professionelle Arbeit mit Gruppen und Klient*innen.
Für den Erhalt einer Tradition können neue Einflüsse und Perspektiven eine große Herausforderung bedeuten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Kunst, Spiritualität oder Wissenschaft handelt. Nicht selten fühlen sich die Bewahrer der Tradition von den Erneuerungen bedroht. Polarisierende Konflikte sind die Folge.
Das vorliegende Buch möchte mit der Verbindung zwischen Yoga und Psychologie generell nicht reformieren und infrage stellen, sondern eine alternative, erweiterte Sicht anbieten. Dabei geht es vor allem um die Orientierung am eigenen Selbst, das immer auch ein verbundener Teil und damit Ausdruck der Gesamtheit ist.
Wenn es uns gelingt, der Intelligenz dieser gestaltenden Quelle zu vertrauen, können wir beginnen, uns von alten Glaubenssätzen, Konzepten und Ideologien zu lösen – als achtsame, mitfühlende und lebendige Wesen in einer sich beständig wandelnden Welt.
Teil I
Prolog
Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment. Ein Jahr zuvor hatte ich meine Ausbildung zum Yogalehrer absolviert und eine weitere Ausbildung in tiefenpsychologisch orientierter Körperpsychotherapie abgeschlossen.
Unsere Tochter war gerade drei Jahre alt. Wir saßen auf dem Balkon und genossen den weiten Blick über das Tal. Die Sonne schien heiß. Ich schnitt auf einem Teller Gemüse für das Mittagessen, während sie am Tisch eines dieser wunderbaren Bilder malte.
Nach ihrer Geburt waren meine Frau und ich aufs Land gezogen, etwas abseits des Dorfes, in die Nähe eines Bauernhofs, von Wiesen und Wäldern umgeben. Jetzt im Juli war das dominante Gelb der Löwenzahnblüte schon den feinen Farben der Wiesenkräuter gewichen. Die Kühe standen auf ihrer täglichen Wanderung nah am Haus, und wir hörten ihr Schmatzen und Reißen am Gras.
Als meine Tochter von ihrem Stuhl aus über den Balkonrand zu den Kühen schaute, bat ich sie, sich nicht weiter über das Geländer zu beugen. Das sei gefährlich, sagte ich. Meist antwortete sie dann: »Ja, ja.« Ein Ja zu viel, wie ich als Vater finde. Doch dieses Mal schaute sie mich nur an und erklärte: »Du musst keine Angst haben! Jeder Mensch hat Schutzengel, die ihn bewachen.« Ich war überrascht, legte das Gemüse auf den Teller ab und fragte: »Jeder Mensch?« »Ja!«, antwortete sie, als wäre es selbstverständlich. »Jeder Mensch hat drei Schutzengel. Einen blauen, einen grünen und einen roten!« »Woher weißt du das«, fragte ich, »habe ich auch drei Schutzengel?« »Natürlich! Der blaue und der rote sitzen auf deiner Schulter.« Sie zeigte rechts neben meinen Kopf: »Und der grüne ist auf der anderen Seite.«
Damals lebte ich beruflich wie privat in einer herausfordernden Zeit. Der dauernde Wechsel zwischen meiner Rolle als Vater, meiner inneren Arbeit und der gerade beginnenden Tätigkeit mit Klient*innen machte mir zu schaffen. Ich erlebte die Übergänge oft als mühsam und empfand sie als Bruch. Gab es nicht ein gemeinsames inneres Zentrum dieser Lebensfelder, eine beständige Essenz, auf die ich mich ausrichten könnte? So würden alle Wechsel und ihre entsprechenden Rollen rein äußerlich bleiben. Die Suche nach einer in sich ruhenden und zugleich mit dem Leben verbundenen Nabe beschäftigte mich sehr.
Zurück in der Küche, noch berührt vom schönen Engelbild meiner Tochter, setzten sich etwas später – fast plötzlich – Vatersein, Meditation und Psychologie wie Puzzleteile in mir zusammen. Ich erkannte, dass ich lernen musste, mich dem Leben selbst anzuvertrauen, um die in mir empfundenen Brüche zu überwinden. »Du brauchst keine Angst zu haben …«, hatte sie so unbeirrt gesagt. »Wir