Zufrieden alt werden. Volker Fintelmann
so alt wie deine Zweifel,
so jung wie deine Hoffnung,
so alt wie deine Verzagtheit.
So lange die Botschaften der
Schönheit, Freude, Kühnheit, Größe,
Macht von der Erde, den Menschen
und dem Unendlichen
dein Herz erreichen –
so lange bist du jung.
Albert Schweitzer
Vor gut 30 Jahren habe ich für den Verlag Urachhaus eine Alterssprechstunde geschrieben. Der damalige Verleger Johannes Mayer und ich gingen davon aus, dass es sinnvoll wäre, zu dem Pol der Kindheit und der überaus erfolgreichen Kindersprechstunde von Michaela Glöckler und Wolfgang Goebel nun auch den anderen Pol des Menschenlebens, das Alter, hinzuzufügen. Diese Alterssprechstunde, die erstmals 1991 erschien, wurde mit Interesse aufgenommen und fand seine Leser, es folgten 1999 und 2005 weitere Auflagen. Heute kann man sie nur noch antiquarisch erwerben. Der Lebensabschnitt des Alters fand kein annähernd vergleichbares Interesse wie derjenige der Kindheit.
Vorstellung »ewiger Jugend«
Hat sich das heute, drei Jahrzehnte später, verändert? Immer mehr dominiert die Vorstellung »ewiger Jugend«, immer deutlicher wird Alter mit Abbau und Degeneration, mit Demenz oder Alzheimer gleichgesetzt. Insofern ist es nur konsequent, wenn die Forscherelite im Silicon Valley als eines ihrer wichtigsten Forschungsziele die Aufhebung des Alters im Menschenleben sieht und entsprechend intensiv und mit Einsatz extremer Geldsummen verfolgt. Es werden die Gene gesucht und identifiziert, die für das Alter verantwortlich gemacht werden, und an ihrer Mutierung oder vollständigen Abschaffung gearbeitet. Das vorläufige Ziel besteht darin, dass Menschen 200 Jahre alt werden, auf längere Sicht sollen es dann 500 sein.1 Das scheint doch ganz im Sinne moderner Anschauungen besonders der westlich orientierten Menschen zu sein, denn wie häufig kann man den Satz lesen oder hören: Die meisten Menschen wollen heute gerne sehr alt werden, doch keiner von ihnen will alt sein.
Anthropologie und Anthroposophie
Weisheit und Lebenserfahrung
Kann diese Paradoxie aufgelöst werden, können wir ein Verständnis entwickeln, warum das Alter eine so negative Bedeutung bekommen hat? Denn das war nicht immer so und ist auch heute in manchen vor allem östlichen Kulturen ganz anders. Das Alter wurde mit Ehrfurcht erlebt und auch verehrt, man verband es mit Weisheit und gesättigter Lebenserfahrung. Und ist es nicht auch paradox, dass in vielen Institutionen, zum Beispiel in der katholischen Kirche, extrem alte Menschen in höchste Ämter berufen oder gewählt werden, dass im Wahlkampf der USA die wichtigsten Kandidaten für das Amt des Präsidenten oft weit über 70 Jahre alt sind?
Verständnis des Menschen selbst
Der erste Denkschritt für das Enträtseln dieser sich widersprechenden Anschauungen über das Alter beruht auf dem Verständnis des Menschen selbst. Die Wissenschaft vom Menschen (Anthropologie), die Teil der alles dominierenden Naturwissenschaften ist, erklärt den Menschen als hochkomplexen Leib, welcher seelische und auch geistige Phänomene produziert, die jedoch keine Eigenständigkeit oder gar eigene Gesetzmäßigkeiten haben. Die ursprüngliche Dreiheit des Menschen (Trichotomie), welche Leib, Seele und Geist umfasste, wurde auf die Einheit Leib geschrumpft. Geist oder Seele existieren demnach nur in Verbindung mit einem Leib oder Körper, sie haben keine unabhängige oder gar den Leib zeitlich überdauernde Existenz. Für eine so reduzierte Wissenschaft des Menschen gibt es weder Geist noch Seele ohne Körper.
Materie als »Schlacke« des Geistes »Abschaffung« der eigenständigen Seele
Diese maximale Reduzierung letztlich auf ausschließlich Materielles ist durch die moderne Physik, vor allem als Quantenphysik, längst widerlegt. Für den Physiker Hans-Peter Dürr zum Beispiel ist Materie nur »Schlacke« des Geistes, dessen Ausdruck für ihn Verbundenheit oder noch umfassender Liebe ist. Der Geist ist das Element in der Welt, das alles zusammenhält, er nennt ihn unteilbar, holistisch, ein Ganzes: »Die Grundlage der Welt ist nicht materiell, sondern geistig.«2 Geistesgeschichtlich ist es eindrücklich, dass diese Reduzierung einer Dreiheit auf die Einheit in zwei Schritten erfolgte: 869 n.Chr. schaffte die römisch-katholische Kirche auf dem Konzil von Konstantinopel mit Mehrheitsbeschluss den eigenständigen Geist quasi ab, ja sie stellte unter Strafe der Häresie oder Ketzerei, von einem solchen zu sprechen oder zu schreiben. Und im 19. Jahrhundert schaffte dann die aufkommende streng (ja letztlich ebenfalls dogmatische) naturwissenschaftliche Medizin die eigenständige Seele ab. Auch hierfür kann eine Jahreszahl genannt werden: 1858 veröffentlichte Rudolf Virchow seine Zellularpathologie. In diesem Buch propagierte er die Autonomie der Zelle als eigentliche Einheit des Körpers – und letztlich auch den Menschen als genetisch gesteuerten komplexen Zellhaufen, in dem eine eigenständige Seele keinen Platz mehr hat. Die etwas später aufkommende Psychoanalyse Freuds und alle parallel entstehenden Psychologien, Psychotherapien und auch die Psychosomatik haben daran bis heute nichts ändern können.
Anthroposophie
Noch im ausklingenden 19. Jahrhundert und vor allem auch im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts vermittelte Rudolf Steiner eine Wissenschaft vom Menschen, die er Anthroposophie nannte und erkenntnistheoretisch als Synthese von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis des Menschen und der Welt, in die er gestellt ist, begründete.3 In ihr lebt wieder das Wissen um die Trichotomie von Leib, Seele und Geist, ebenso wie umfassende Darstellungen ihres Miteinanders trotz eigenständiger Gesetzmäßigkeiten und alle damit verbundenen Verständnisse, aus der Sicht des Arztes zum Beispiel auch von Gesundheit und Krankheit.
Steiner sprach unmissverständlich aus, dass nur der Leib oder Körper altert: »Und nur des Leibes Schicksal auf Erden ist es, alt zu werden.«4 Die Seele dagegen ist jung und bleibt es, ja sie kann sogar immer jünger werden, wenn sie aus ihrer Gesetzmäßigkeit in gesunder Korrespondenz mit Leib und Geist existieren kann und nicht zum Beispiel zunehmend vom Leib dominiert wird.
Mensch als Werdender
Steiner machte in seinem umfassenden Werk auch auf eine weitere Wirklichkeit immer wieder aufmerksam: die in seiner Zeit aufkommende Idee der Evolution, wie sie sich mit Namen wie Charles Darwin, Ernst Haeckel oder aus christlicher Sicht Teilhard de Chardin verbindet. Auch er selbst beschrieb eine Entwicklungsgeschichte von Mensch und Welt5 und definierte den Menschen als Werdenden, nicht als Seienden. Und er weitete unseren Blick über die Grenzen der Geburt oder Empfängnis und des Todes oder Lebensendes hinaus in eine real zu erfassende Welt der Vorgeburtlichkeit und Nachtodlichkeit, hin zu einer Existenz oder auch eines Lebens zwischen Tod und erneuter Geburt und damit der Gesetzmäßigkeit der Wiederverkörperung oder Reinkarnation. So wird der Mensch Teil der großen Evolution der Schöpfung, die er von ihrem Anfang bis an ihr Ende als Einzelner, als Individualität mitmacht. Denn er – der Mensch – ist Mittelpunkt und Ziel dieser Evolution und kann so nur als ein sich Entwickelnder, Werdender verstanden werden. Eine Grundgesetzmäßigkeit aller so gewollten Evolution ist der Rhythmus oder die Fülle unterschiedlicher Rhythmen.
Veranlagung zur Freiheit
Ein weiteres Phänomen zum Verständnis des Menschen und so