Zufrieden alt werden. Volker Fintelmann

Zufrieden alt werden - Volker Fintelmann


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      Es ist kein Zufall, dass Steiner mit 33 Jahren eines seiner wichtigsten Werke in Buchform veröffentlicht hat, die Philosophie der Freiheit, der er den methodischen Untertitel Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode gab.12 Er hatte den Inhalt durch vorausgehende kleinere Schriften und seine Dissertation vorbereitet.13 Die Anthroposophie kann auch als Freiheitswissenschaft verstanden werden. Freiheit verbindet sich innig mit der Wahrheit. Ein Christuswort lautet so treffend: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Johannes 8,32). Sie ist Teil seines Wesens, seine Substanz, ER ist der »Weg, die Wahrheit und das Leben« (Johannes 14,6).

       Freiheit muss immer neu erworben werden

      Die Freiheit wurde dem Menschen als Gotteskeim in seiner Schöpfung eingepflanzt, sie ist unser kostbarster Same, der immer stärker austreibt und wachsen will, der aber auch gehegt und gepflegt werden und auch geschützt sein will. Welche großartigen Freiheitskämpfer kennt die Menschheit, wie konzentriert war ihr Auftreten im 20. Jahrhundert, verfinstert von Faschismus und Bolschewismus, von zwei Weltkriegen und weltweiter Unterdrückung vieler Menschen. Freiheit hat man nicht, man muss sie sich immer neu erwerben, und einer ihrer schwierigsten Anteile ist, sich selber gegenüber frei zu sein oder zu werden. Ein köstlicher Anteil von ihr ist es auch, sie anderen zu geben oder zu ermöglichen.

      Freiheit kann ein hoher Anteil des Alters sein. Ein Kind dagegen kann nie frei sein, es lebt in größter Abhängigkeit von anderen Menschen, Eltern, Erziehern, Geschwistern; es ist auch völlig abhängig von seiner Leibesentwicklung. Wie viel Freiheit kann im Vergleich hiermit das Alter schenken!

       Persönliches

      Jedes Buch ist Ausdruck des Menschen, der es verfasst. Die Intensität, mit der sich der Verfasser allerdings in die Inhalte einbringt, kann sehr verschieden sein, zum Beispiel bei einer wissenschaftlichen Ausarbeitung, die größte Objektivität anstrebt, im Verhältnis zu einer Autobiografie, die überwiegend subjektiv ist. Das vorliegende Buch über das Alter ist ausgesprochen persönlich oder auch bewusst subjektiv. Der Leser und die Leserin sollen deshalb etwas von der Person wissen, die hier schreibt.

       die Lebenserfahrung »spricht mit«

      Person birgt personare in seinem Wortstamm, was »durchtönen« heißt. Und so habe ich es auch immer erlebt, wenn ich ein Buch schrieb oder einen Vortrag hielt. Es spricht in den eigenen Sätzen etwas mit, was mehr ist als man selber. Ich möchte dieses Etwas Lebenserfahrung nennen, die geprägt wird und im Alter oft gesättigt ist von den Begegnungen mit anderen Menschen. Wir sind doch gar nicht denkbar ohne die Prägung durch andere Menschen, ganz zentral in Kindheit und Jugend, aber immer fortwirkend bis in das hohe Alter. Am stärksten wurde mir das als Arzt bewusst durch die Menschen, die sich mir anvertrauten und die die Medizin traditionell Patienten nennt. Sie waren meine eigentlichen Lehrer, durch sie habe ich alles gelernt, was mich (hoffentlich!) zu einem guten Arzt werden ließ. Das ist mir bei meinem ersten Buch Intuitive Medizin in jedem Kapitel bewusst geworden, manchmal wusste ich bei einem einzelnen Satz ganz konkret, wer ihn mir gerade »diktierte«.

       Liebe zur Schöpfung Mensch

      Durch mich »tönt« in allem der Arzt! Ich wusste mit drei Jahren, dass ich diesen Beruf ergreifen wollte, ich hatte die Intention offensichtlich »mitgebracht«. Es ist ein ganz auf den Menschen gerichteter Beruf, und du kannst nicht Arzt sein, ohne den Menschen zu lieben. Mediziner vielleicht, aber nicht Arzt. Und die Liebe gilt nicht zunächst dem einzelnen konkreten Menschen, der mir als Patient begegnet, sondern der Schöpfung Mensch. Sie ist ein einziges Wunder, vielleicht das größte aller Schöpfung. Ihr wollte ich mich verbinden, ja ihr dienen. Das Studium lieferte viel technisches Verständnis, unglaubliches Detailwissen, ca. 25.000 Seiten Lehrbuchwissen musste ich mir aneignen, um das Staatsexamen zu bestehen. Aber vom Menschen lernte ich kaum etwas, ganz vereinzelt von solchen Dozenten, die Vorlesungen anboten, die man nicht nachweisen musste, um das Examen zu machen. Sie wurden »fakultativ« genannt. Beispielsweise im Rahmen der Vorlesung Das Gesicht des Kranken während meiner Zeit an der Universität in Heidelberg führte uns vier Teilnehmer (!) der Dozent an das Krankenbett und lehrte uns wahrzunehmen, was das Gesicht eines Kranken alles erzählen kann, wenn man richtig schaut, bis hin zu einer Diagnose ohne Labor, Röntgen, Endoskopie oder MRT.

       Anthroposophie

      Auf der Suche nach mehr Verständnis vom Menschen begegnete mir durch einen älteren Bruder die Anthroposophie, und seither habe ich mich ihr ganz verbunden. Sie war es unwissend wahrscheinlich schon viel länger, und sie ist ein weiteres Element, das mich durchtönt. Als ich bei Steiner las, der Arzt brauche Menschenverständnis und Menschenliebe, traf dies auf uneingeschränkte Zustimmung in mir. Diese Zweiheit lebt in der Medizin als Diagnose und Therapie. Diagnose bedeutet, den anderen zu verstehen, wer er ist, wie er geworden ist, und vor allem, wer er werden will. Und es bedeutet, ihn so sein zu lassen, wie er ist, ihm keinen Stempel von Vorurteilen aufzuprägen und doch mit ihm zu entdecken, was er an sich durch die Krankheit, die uns nun verbindet, ändern möchte. Das ist ihm ja oft nicht bewusst, und eine der Künste der Diagnose ist es, dies herauszufinden und bewusst zu machen. Und dann die Wege zu suchen und zu finden, um diesen Entwicklungsschritt zu realisieren. Diese Erkenntnisarbeit quillt aus der Liebe, die das Verständnis ergänzt und zur Therapie wird.

       Christliches

      Und ein drittes Element erlebe ich mich durchtönen: das Christliche in der Welt. Es fällt mir schwer, hier »Christentum« zu schreiben, weil sich viel zu viel mit diesem Wort verbindet, was durch die Jahrtausende ausgelebt wurde, was mit dem Gründerwesen, dem Christus, nichts gemein hat. Von sehr jugendlichen Jahren an wusste ich, dass ich Christ sein will, doch was mir an Kirche oder Konfession begegnete, korrespondierte nicht mit dem, was in mir klang. So wurde Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor in dem Roman Die Brüder Karamasow eine tiefe Bestätigung meines Empfindens. Ein wirkliches Erkennen und Wissen, was es heißt, Christ sein zu wollen, fand ich erst in der Anthroposophie.

       Offenheit

      Es sind diese drei Elemente, die mich durchtönen, aus denen ich lebe und als Arzt gearbeitet und gelehrt habe, von denen der Leser und die Leserin wissen sollten: Arzt aus Menschenverständnis und Menschenliebe; Anthroposophie und der Mensch Rudolf Steiner; und die Christuswesenheit, die als Gottessohn Mensch geworden ist und sich uns innig verbunden hält mit all seiner Liebe und seinen vielen Helfern. Ich könnte von Weltanschauung sprechen, wenn dieses Wort nicht oft missbraucht würde, als bedeute es Einengung bis zur Ideologie. So wird die Anthroposophische Medizin von Kritikern oder Gegnern gerne als »weltanschaulich« disqualifiziert, als ob die Naturwissenschaften nicht auch eine spezifische Sicht auf Mensch und Welt vermitteln würden, also Weltanschauung seien. Ich kann von mir sagen, dass ich mich nie einengen ließ auf bestimmte Anteile oder Sichtweisen, sondern für alles mir Begegnende offen blieb, zu lernen und meine Anschauung von Mensch und Welt zu erweitern. Und da kann ich den Bogen wieder zum Alter schlagen. Denn wenn ich gefragt wurde, welche Mittel es denn gäbe, um gesund alt zu werden und zu sein, war und ist meine Antwort: »Bleibe immer neugierig und höre nie auf zu lernen!«

       Der Lebenslauf

       Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge

       und keine Heimat haben in der Zeit.

       Und das sind Wünsche: leise Dialoge

       täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

       Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern

       die einsamste von allen Stunden steigt,

      


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