Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann
den Marxisten Bloch in der Tat betroffen machen, dass im östlichen Kommunismus gerade im Namen des Marxismus der Überbau (verkürzt ausgedrückt: die Sphäre der Ideen) von der Basis (der materiellen Sphäre menschlichen Seins und Handelns) losgelöst wurde. Der Grund hierfür lag nicht in subjektiv bösartiger Intention, sondern rührte von einem objektiven Strukturproblem her. Bloch hat dies genau erkannt: „Das kann mit dem Boden zusammenhängen, einem Boden, der durch keine bürgerliche Revolution genährt war, der seit der Teilung des ost- und weströmischen Reiches im Jahre 396 immer ferner rückte, der keine Scholastik kennt, keine Renaissance, keine Probleme der Reformation, keine Aufklärung, kein 1789. Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution. Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt, die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich? War es da nicht ganz gesetzmäßig, um einen üblichen Ausdruck der vulgären und schematischen Orthodoxie zu gebrauchen, dass sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern musste? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?“
Was sich viele Feinde des Sozialismus nicht klarmachen, wenn sie den Untergang des Sowjetkommunismus schadenfroh als historische Entscheidung im Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus feiern, mithin daraus auch eine historiosophische Schlussfolgerung und endgültige Entscheidung gezogen haben wollen, ist, dass dieser Einwand Blochs sich gerade auf Wesentliches in Marxens Denken berufen darf. Denn – lapidar ausgedrückt – hätte der schiere Gedanke, dass die proletarische Revolution gerade im zaristischen Russland ausbrechen werde, Marx gewiss entsetzt. Das sei kurz erörtert.
Bei Marx ist der wahre revolutionäre Umbruch stets das Ergebnis eines evolutionären Vorlaufs, der erst dann den Umschlag hervorbringt, wenn der Widerspruch zwischen dem, was sich gesellschaftlich real an der Basis entwickelt hat, und dem Bewusstsein dieser realen Entwicklung, wie es sich im Überbau niederschlägt, nicht mehr zu halten ist und eine Entscheidung erfordert. Das ist die sogenannte revolutionäre Situation – sie ist historisch entstanden und manifestiert sich als Strukturproblem. Man kann also nicht einfach mal so „eine Revolution beschließen“, gleichsam als Gedankenspiel. Die Revolution ist, Marx zufolge, den gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen sie hervorgeht, insofern unterworfen, als es bei ihm keine künstlichen Sprünge geben kann: Eine jede historische Phase muss sich ihrem System gemäß voll verwirklicht haben, ehe sie in die nächste revolutionär übergehen kann. Wenn wir also von den drei zentralen Phasen in der Neuzeit ausgehen, die für Marx die Abfolge der aus den materiellen Bedingungen entstandenen Produktionsweisen darstellen, lässt sich sagen, dass der bürgerliche Kapitalismus erst dann die neue gesellschaftliche Formation bilden kann, wenn sich der Feudalismus voll entfaltet, quasi sich vollendet hat. Und so auch beim Sozialismus: Er kann erst dann aus dem Kapitalismus erwachsen, wenn dieser an die Grenzen seiner Entfaltung gelangt ist, sich sozusagen überlebt hat.
Wann derlei Grenzen erreicht sind, lässt sich nicht leicht bestimmen. Klar ist aber, dass es für die Heraufkunft des Kapitalismus notwendige strukturelle Bedingungen gibt: Er hat zumindest die Industrialisierung der Ökonomie zur Voraussetzeung, mithin die Herausbildung der neuen historischen Klassen des Bürgertums und des Proletariats als Träger der neuen Produktionsmittel, sei es als herrschende, sei es als beherrschte Klasse. Der Konflikt zwischen den beiden Klassen ist Marx zufolge unausweichlich, und er ist insofern von gewichtiger Bedeutung, als im Verhältnis beider Klassen sowohl die Entfaltungsmöglichkeiten des Kapitalismus als auch sein revolutionärer Untergang angelegt sind. Für Marx war also historisch ein Sprung vom Feudalismus direkt zum Sozialismus nicht denkbar, und zwar nicht nur realgeschichtlich, sondern auch im Hinblick auf die innere Logik seiner Geschichtsphilosophie – eben die der evolutionären Entwicklung auf die revolutionäre Umwälzung hin.
Und das ist es, was Ernst Bloch im eingangs zitierten Diktum moniert: Wenn er von der Platonisierung der Marx’schen Lehre spricht, von einem „Idealismus unter der Maske von Materialismus“, dann kritisiert er nicht nur den ideologischen Verrat, den sowjetische Marxisten an der Lehre selbst begehen, sondern auch die Leugnung der nachgerade unmöglichen Bedingungen für die Etablierung eines Sozialismus im zaristischen Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Feststellung: „Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution“, besagt ja nichts anderes, als dass im noch weitgehend feudalistischen Zarismus keine Strukturbedingungen für eine sozialistische, geschweige denn kommunistische Revolution bestanden haben. Russland jener Zeit war (im Vergleich zu England, Frankreich und Deutschland) weder in einem Maß industrialisiert, das die reale Etablierung eines kapitalistischen Systems ermöglicht hätte, noch waren die gesellschaftlichen Strukturen für eine damit einhergehende Herausbildung eines den Feudalismus überwindenden Bürgertums und des ihm antagonistisch verschwisterten Proletariats gegeben.
Was das zur Folge hatte, war eine Tragödie: „Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt“, sagt Bloch, „die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich?“ Und weil Zimmer und Räume nicht möglich waren, sah sich der nicht aus Wohlstand, sondern aus materiellem Mangel und im Bewusstsein dieses Mangels hervorgegangene und etablierte Sowjetkommunismus gezwungen, mit Gewalt durchzusetzen, was historisch nicht organisch gewachsen war, um den Abstand zu dem zur vollen materiellen Blüte gelangten Kapitalismus „aufzuholen“. Forciert und im Stalinismus dann mit brachialer Oppression sollte erreicht werden, wofür es nicht die historisch gewachsenen Bedingungen gab. Das „kühnste, modernste, zukunftshaltigste“ und man mag getrost hinzufügen „humanistischste“ Projekt verkam zum System teils gnadenloser Unterdrückung. Was ausgezogen war, den Menschen zu befreien, gerann zum systematisch betriebenen Verrat an seiner Freiheit.
Was nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus als Sieg der „Freiheit“ über den „Kommunismus“ gefeiert wurde, war eine ideologische Farce. Denn einen realen historischen Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus hatte es ja nicht gegeben. Der sogenannte „real existierende Sozialismus“ war eben keiner gewesen, sondern lediglich die ideologische Verhinderung dessen, was ohnehin keine historische Chance gehabt hatte, sich zu dem zu entfalten, was es verhieß. Abgeschafft war somit nur der symbolische Gegenentwurf zum Kapitalismus, der sich nun seinerseits so austoben durfte, wie er es sich zuvor aus ideologisch aufgepeitschter Angst vor dem „Kommunismus“ nicht erlauben konnte. Nun durfte er sich auch der als Schutzschild gegen die „kommunistische“ Bedrohung gehaltenen Sozialdemokratie entledigen.
Bloch fragt am Ende des angeführten Zitats, ob es nicht „gesetzmäßig“ gewesen sei, „daß sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern mußte? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?“ Es ist lange her, seit der marxistische Philosoph diese Frage stellte. Schwer zu sagen, ob dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten wäre. Der Kapitalismus erwies sich bislang als äußerst versatil in der Handhabung seiner inneren Widersprüche und Krisen. Eher lässt sich vermuten, dass sich die sozialistische Revolution in keinem westeuropäischen Land ereignet hat, gerade weil sie vorzeitig im ihr unangemessensten aller möglichen Länder ausgebrochen war. Wahrlich – eine Tragödie in welthistorischem Maßstab.
Der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus wirkte sich unmittelbar auf die historiographische Rezeption der Französischen Revolution aus. Dies deutete sich bereits im Jubiläumsjahr 1989 an, als der „letzte“ marxistische Revolutionshistoriker Michel Vovelle und sein revisionistisch ausgerichteter Kontrahent François Furet sich gleichsam als zwei Gladiatoren im Kampf um das Gesinnungsparadigma der Revolutionsdeutung öffentlich gegenüberstanden. Den Sieg trug offenbar Furet davon, denn nach 1990 verhallte die gesamte Geschichtsschreibung der Französischen Revolution deutlich, und zwar nicht nur die marxistische. Es erschienen kaum noch nennenswerte Bücher über die Revolution selbst, sondern – wenn überhaupt – Schriften über die Geschichte der Geschichtsschreibung der Revolution. Das Geschichtsereignis der Französischen Revolution samt seiner historiographischen Rezeption war, so will es scheinen, abgehakt. Eine neue Ära war nach dem Zerfall des Sowjetkommunismus angebrochen, in der gründlich mit der bis dahin pulsierenden Emanzipationsemphase aufgeräumt wurde, nicht zuletzt mit dem monumentalen Ereignis am Beginn der Moderne – der großen Französischen Revolution. Dies ist insofern verwunderlich, als sich das bürgerliche Zeitalter samt seiner kapitalistischen Ideologie in erheblichem