Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann

Das Trauma des


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Revolution auf diese Kultur. Anvisiert wurde die Entwicklung im sogenannten „Vormärz“, der Zeitspanne vor der auch in Deutschland ausgebrochenen Revolution von 1848. Diese bürgerlich-politische Revolution stand noch bevor, insofern als die Verschärfung der sozialen Gegensätze den Konflikt zwischen dem Bürgertum und den niederen, allmählich aufbegehrenden Volksschichten offen zutage legte. Von einem gereiften Klassenbewusstsein des Proletariats konnte damals noch nicht die Rede sein. Träger der Hoffnungen auf die Errichtung eines auf Volkssouveränität beruhenden Einheitsstaates und auf den damit verbundenen Sturz des auf Geburt und Herkunft beruhenden Privilegiensystems waren die deutschen Demokraten und Liberalen. Der Widerspruch zwischen der abstrakten politischen Zielsetzung und der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung musste denn auch zu einem Scheitern der Revolution führen: Die sozialen Forderungen der Massen waren mit den politischen und konstitutionellen Postulaten des Bürgertums schlechterdings nicht vereinbar.

      War die 1848er Revolution der gleichsam verspätete Versuch eines Nachvollzugs der großen Französischen Revolution, so war ihr Scheitern mit einer umso größeren Ernüchterung und einer sowohl politischen als auch geistigen Wende verbunden: Das Vordringen der Reaktion im ganzen Reich kulminierte in den bis- marckschen Siegen der 1860-er Jahre bis hin zur undemokratischen Reichseinigung „von oben“. Man darf von einer verpassten Chance reden. Denn die 1848er Revolutionäre hatten zunächst durchaus Teilsiege errungen. Was aber das Paulskirchenparlament, das die klein- bzw. großdeutsche Reichseinigung debattierte, dann zustande brachte, war eine an den preußischen König entsandte Delegation mit dem Antrag, gesamtdeutscher Kaiser werden zu wollen. Er lehnt „dankend“ ab. Nicht von ungefähr sollte später Friedrich Meinecke von deutscher „Obödienzgesinnung“ reden. Im kulturell-geistigen Leben bewirkte die misslungene Revolution eine Flucht in die subjektive Innerlichkeit einerseits und in die ideologische „Abwendung von der Welt“ andererseits. Das Scheitern der Revolution war insofern eine Tragödie, als behauptet werden darf, dass ein Erfolg der Revolution die Geschicke Deutschlands im weiteren Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz anders geprägt, mithin die „deutsche Katastrophe“ (Meinecke) wahrscheinlich verhindert hätte.

      Im August 1960 wurde Karl Jaspers vom Publizisten Thilo Koch für eine Sendung des Nord-Westdeutschen Fernsehens interviewt. Im Laufe des Interviews nannte Jaspers die Forderung der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten „politisch und philosophisch in der Selbstbesinnung irreal“, da der Gedanke der Wiedervereinigung darauf beruhe, „daß man den Bismarck-Staat für den Maßstab nimmt“: Der Bismarck-Staat solle wiederhergestellt werden, wo er doch „durch die Ereignisse unwiderruflich Vergangenheit“ sei. Die Forderung der Wiedervereinigung, sagte der Philosoph, sei eine Folge der Weigerung, anzuerkennen, was geschehen ist. Man gründe eine Rechtsforderung auf etwas, das durch Handlungen verschwunden sei, „die dieses ungeheure Weltschicksal heraufbeschworen haben und die Schuld des deutschen Staates sind“. Gerade diese Handlungen nun wolle man nicht anerkennen. Es habe also keinen Sinn mehr, die deutsche Einheit zu propagieren, „sondern es hat nur einen Sinn, daß man für unsere Landsleute wünscht, sie sollen frei sein!“

      Wie erwartet, riefen seinerzeit Jaspers’ Worte, besonders der offen artikulierte Primat der Freiheit vor der Einheit, ungestüme Reaktionen hervor. Vertreter aller Parteien in der westdeutschen Hauptstadt widersetzten sich nahezu einhellig den aufgestellten Behauptungen, während in der Presse und in den elektronischen Massenmedien eine breite öffentliche Debatte entbrannte. Thilo Koch selbst moderierte wieder, etwa zehn Tage nach dem Jaspers-Interview, eine Fernseh-Gesprächsrunde über die vermeintlich provokanten Feststellungen des Philosophen. „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein trat in dieser Sendung als ausgesprochener Befürworter der Einheitsidee auf. Er behauptete wiederholt, in der gegebenen Situation sei eine „philosophische Warte“, die die Notwendigkeit zweier deutscher Staaten dekretiere, „verderblich“, zumal Jaspers es nirgendwo sichtbar gemacht habe, wieso eine moralische Verpflichtung bestehen soll, auf die Wiedervereinigung zu verzichten. Es handle sich nicht um eine philosophische Haltung, behauptete Augstein resolut, sondern um eine „pseudophilosophische Begründung“ für eine letztlich „politische Frage“, ein Argument, das von Jaspers’ „Ressentiment gegen das Bismarck-Reich“ herrühre. Augstein hob gleichwohl hervor, dass er mit Jaspers darin übereinstimme, „daß wir tatsächlich die Konsequenzen unseres Tuns, und es war unser Tun, zu tragen haben, daß wir mithaften“.

      Dreißig Jahre später, im Februar 1990, drei Monate nach dem Fall der Mauer in Berlin und rund sieben Monate vor dem offiziellen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten, wurde Augstein zu einem weiteren Fernseh-Gespräch zum Thema der Wiedervereinigung eingeladen, diesmal gemeinsam mit Günter Grass. Im Verlauf der Debatte erwies sich Grass als Befürworter von Jaspers’ alter These. Unter anderem erklärte er, Auschwitz sei für ihn „die große Schwelle, die Schamschwelle“, die mitbedacht werden müsse bei jedem politischen Versuch, in Deutschland etwas neu zu gestalten. Aus einer Konföderation der beiden Staaten, meinte er, ließe sich etwas schaffen, das sowohl „dem ersten Gebot der Freiheit Genüge tut“, als auch „eine Form von Einheit gewährleistet, die für uns erträglich ist, die mehr ist als eine bloße Wiedervereinigung und die gleichzeitig von unseren Nachbarn akzeptiert werden kann“. Demgegenüber trat Augstein als konsequenter Vertreter seiner alten Forderungen von vor dreißig Jahren auf, diesmal freilich von einer realpolitisch-nüchternen Warte argumentierend: „Der Zug“ sei ohnehin schon „abgefahren“; angesichts des DDR-Bankrotts sei die Wiedervereinigung eine zwangsläufige Notwendigkeit geworden, mag man sie nun wollen oder nicht. Auf Grass’ moralische Einwände bezugnehmend, beteuerte er, dass wohl niemand, der nicht direkt betroffen sei, Auschwitz fürchterlicher finden könne als er, dass er gleichwohl meine, man dürfe es nicht in der praktischen Politik perpetuieren; darüber hinaus sei es ohnehin nicht konstituierend „für den künftigen Lauf der Welt“.

      Augsteins und Grass’ Positionen sind paradigmatisch: Man mag sie als getreue Widerspiegelung der beiden parallelen Grundpositonen ansehen, die die Wiedervereinigungspolitik der deutschen Sozialdemokratie seit Ende des Zweiten Weltkrieges prägten. Im Wiedervereinigungsjahr selbst wurden diese Positionen von Ex-Kanzler Willy Brandt einerseits und vom SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine andererseits getragen. Im Grunde aber verkörperte Willy Brandt die Synthese beider Positionen in seiner eigenen Person: Brandt, Träger des ihm in internationaler Anerkennung seiner Entspannungspolitik gegenüber dem kommunistischen Osten verliehenen Friedensnobelpreises, Brandt, der die Beziehung des „anderen Deutschland“ zu Auschwitz mit seinem berühmt gewordenen Kniefall in Warschau persönlich symbolisierte, ist derselbe in der Nacht des Mauerfalls zu Tränen gerührte Brandt, der schon im Februar 1990 die deutsche Einheit für „im Prinzip gelaufen“ erklärte, was sowohl in der Begegnung der Menschen „von unten“ als auch in der konkreten Gestalt, die die Einheit „von oben“ anzunehmen beginne, zu erkennen sei. Freilich sprach er auch eine deutliche Warnung aus: Das vereinte Deutschland werde „föderalistisch und europäisch eingebunden sein, oder es wird nicht sein“.

      Es handelte sich hierbei nicht um das von vornherein gewusste Ende eines einfachen linearen Ablaufs. Willy Brandts Gestalt ist in der Tat insofern paradigmatisch, als er mehr als die meisten Politiker der bundesrepublikanischen Nachkriegsära jene „Dialektik der Normalisierung“, von der Habermas sprach, repräsentierte; er war es auch vornehmlich, der die deutsche Friedenspolitik initiierte, sie erstmals nach Osten richtete und somit zur graduellen Schlichtung der traditionellen Spannung zwischen der westlichen Sozialdemokratie und dem osteuropäischen Kommunismus beitrug. Man darf freilich nicht vergessen, dass die vierzigjährige Existenz der Bundesrepublik nicht im Zeichen der durch den Sozialdemokraten Willy Brandt vertretenen politischweltanschaulichen Tradition begann und auch nicht endete. Es war Konrad Adenauer, Haupt der konservativen Christlich-Demokratischen Union, aktiver Gestalter und herausragender Repräsentant jenes „restaurativen Klimas“ der fünfziger Jahre, der die neugegründete Republik anführte. Und es wird kein anderer sein als Helmut Kohl, der Führer derselben Partei zur Zeit des Mauerfalls und Urheber des Slogans von der „Gnade der späten Geburt“, nämlicher Kohl, der Michail Gorbatschow im Jahre 1985, auf dessen erste Versöhnungserklärungen hin, mit Joseph Goebbels verglich und den offiziellen Besuch mit Ronald Reagan auf dem Bitburger Friedhof der SS-Soldaten veranstaltete, der als „Einheitskanzler“ in die Geschichte eingehen wird.

      Insofern man die Vereinigung


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