Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann

Das Trauma des


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Deutschlands schreibt, und dem Historiker, der sich mit diesem Thema heute beschäftigt. Der heutige Historiker, der sich des Entwicklungsganges seit der von Bismarck oktroyierten Einigung bewußt ist, wird sich (und sei es indirekt) mit der Problemstellung auseinandersetzen müssen, ob es eine wie auch immer geartete Verbindung gibt zwischen dieser autoritären politischen Lösung der »deutschen Frage«, dem autoritären Regime der wilhelminischen Zeit8, den imperialistischen Bestrebungen, die – unter anderem – zum Ersten Weltkrieg führten9, dem zögernden Eintritt in die Weimarer Republik10 und eben der Etablierung der hitlerischen Terrorherrschaft.

      Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß wir eine solche Verbindung für unsere weiteren Überlegungen voraussetzen. Unserer Auffassung nach läßt sich kein historisches Ereignis von seinen historischen Prädispositionen trennen, auch dann nicht, wenn diesem Ereignis im nachhinein das Attribut eines »Wendepunktes« zugeschrieben wird. Dieser Sichtweise gemäß muß also die »Revolution von oben« der Jahre 1870/71 vor allem mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 oder auch, allgemeiner ausgedrückt, mit dem sogenannten »gestörten Verhältnis der Deutschen zur Revolution« in Verbindung gebracht werden11. So besehen beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung mit dem Symptom einer sowohl strukturellen als auch mentalen Entwicklung, die wir als determinant für die gesellschaftliche und politische Kristallisierung Deutschlands im Verlauf des 19. Jahrhunderts bis hin zur nationalsozialistischen Herrschaft erachten.

      Dies will wohlverstanden sein: Unsere Auffassung des Nationalsozialismus als Kriterium für die Wesenserfassung der Entwicklung Deutschlands in der modernen Zeit postuliert nicht eine deterministisch vorgegebene, quasi unumgängliche »historische Notwendigkeit«. Die von uns anvisierte historische Epoche weist mehr als genug alternative Optionen12 auf; dennoch läßt sich der Tatbestand nicht ignorieren, daß die republikanischen und demokratischen Möglichkeiten, welche in verschiedenen Phasen die Matrix für eine sozio-politische Selbstbestimmung hätten abgeben können, nicht wahrgenommen worden sind. Man kann dies natürlich mit der Konstellation der »partikularen Umständen« einer jeden Phase erklären wollen; wir hingegen meinen, daß wenn sich eine lange Reihe solcher »Konstellationsumstände« nachweisen läßt, die sich jedesmal durch die Nichtwahrnehmung der emanzipatorischen Möglichkeit auszeichnen, man eher von einem Verhaltensmuster (Pattern) reden sollte. Gemeint ist nicht ein Pattern, das wir (als die nachkommenden Betrachter) den Entwicklungsstrukturen deutscher Geschichte in den letzten 200 Jahren im nachhinein zuschreiben, sondern jene Pattern, welche der politischen Handlungsweise des Kollektivsubjekts »Deutschland« als Grundlage dienten, und jene Entwicklungsabläufe (unter anderem) selbst in Gang setzten.

      Der Begriff »Kollektivsubjekt« erfordert eine nähere Erörterung. Selbstverständlich handelt es sich bei Begriffsverwendungen wie »Deutschland« oder »die Deutschen« um Verallgemeinerungen, die spezifische Unterschiede in einem solchen Maße verwischen können, daß man ihre Tauglichkeit als analytisches Instrumentarium nachgerade bezweifeln möchte. So ließe sich z.B. in dem von uns behandelten Zusammenhang behaupten, daß die in Deutschland damals existierenden Klassen- und ideologischen Unterschiede, die man im Rahmen einer Rezeptionsanalyse der Revolution wohl nicht außeracht lassen sollte, mit einer solchen Verallgemeinerung übergangen würden. Diesem Einwand ist folgendes entgegenzusetzen:

      Erstens: Wir verwenden Begriffe wie »Deutschland« oder »die Deutschen« als Kategorien zur Unterscheidung der von uns untersuchten Gruppe von anderen Kollektivwesen, wie »Frankreich« oder »die Franzosen«. Die Validität eines solchen verallgemeinernden Vergleichs ergibt sich vorrangig aus dem historischen Kriterium, das wir in Beziehung auf beide Nationen applizieren: In der einen hat die Revolution stattgefunden, und es entstand in ihr gar eine politische Revolutionstradition, wohingegen die andere in ihrer modernen Geschichte keine erfolgreich abgeschlossene Revolution zu verzeichnen hat, und es etablierte sich in ihr eher eine »politische Kultur«, die von je darauf aus war, die Revolution zu umgehen.

      Zweitens: Was die innerdeutsche soziale Schichtung anbelangt, so gilt unser Hauptinteresse dem von der Aristokratie allgemein und vom Hofadel besonders abgegerenzten »Bildungsbürgertum«. Diese Kategorie (und speziell die ihr angehörende Intelligenzschicht) wird von uns als eine Art pars pro toto des gesamten Bürgertums aufgefaßt13, und zwar vor allem deshalb, weil in der hier zur Deabatte stehenden Epoche noch keinerlei scharfe ideologische Trennung zwischen den unterschiedlichen Teilen dieser gesellschaftlichen Klasse auszumachen ist. Dies soll keineswegs besagen, es habe damals nicht schon klare sozio-ökonomische Unterschiede gegeben; da sich aber der Industrialisierungsprozeß noch in den Anfängen befand, kann man gewiß nicht von einer bewußten Polarisierung der Klassenideologien sprechen, und in jedem Fall haben besagte Unterschiede keinen Niederschlag in konträr entgegengesetzten, fest umrissenen politischen Programmen gefunden.

      Andererseits bildete die Intelligenz als wohl prägnanteste Gruppe innerhalb des Bildungsbürgertums, ähnlich wie in anderen Ländern des 19. Jahrhunderts, auch in Deutschland die Speerspitze der politischen und sozialen Kämpfe. In dieser Hinsicht kommt ihrer politischen Aktivität gerade in Deutschland eine doppelte Funktion zu: Ihr politischer Kampf hat objektiv einen Klassencharakter14, und sei es wegen ihrer sozialen Zugehörigkeit zur Kategorie »Bürgertum«; aber es ist auch der klassenlose Kampf der, von Karl Mannheim so genannten, »freischwebenden Intelligenz«, d.h. also in unserem Fall jener Gebildetenschicht, die in besagter Epoche aus dem Glauben an Ideale und Grundsätze der Aufklärung gegen die politische Realität räsoniert. Wir werden die spezifische Situation dieser Schicht in Deutschland noch genauer zu betrachten haben, es läßt sich indes jetzt schon behaupten, daß der Charakter ihrer politischen Aktivität sowohl von der immanenten Marginalität einer »auf dem Zaun sitzenden« Intellektuellengruppe als auch von der bürgerlich sozialen Herkunft dieser Schicht, welche sich in ihrer Selbstbestimmung sowohl vom Adel als auch von den »unteren Schichten« unterschieden wissen wollte, stark beeinflußt war.

      Mehr noch: Die Verwendung verallgemeinernder Begriffe ist gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften höchst verbreitet, denn sie ist letztlich unumgänglich. Denkt man sich nämlich die soziale Realität atomistisch, d.h. als umfassende Zusammensetzung einer Vielzahl von Individuen, so ist jeder Versuch, auch nur einen Teil dieser Realität vernünftig erfassen zu wollen, von vornherein und unweigerlich an einer begrifflichen Verallgemeinerung bzw. an eine Unterteilung in Kategorien gekettet, deren Erklärungsvalidität von der Definition abhängt, die man dem zu erforschenden Objekt nach logischen Erwägungen und methodologischen Zwängen zukommen läßt, Erwägungen, die im Grunde aber nichts anderes sind als das Erzeugnis eines wertbeladenen (sehr oft ideologischen) Ausgangspunktes in der Auffassung des Forschers. Der Grad der Annehmbarkeit besagter Definition und der von ihr abgeleiteten begrifflichen Verallgemeinerung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ist Funktion eines konjunkturbedingten Konsenses, welcher selber jederzeit angesichts eines bevorstehenden Paradigmenwechsels zersetzt werden kann, oder er existiert von vornherein erst gar nicht infolge der die Wissenschaftsgemeinde selbst beherrschenden ideologischen Differenzen. So z.B. unterscheidet sich der »Klassen«-Begriff der marxistischen Theorie von der der struktur-funktionalen Schule; beiden Strömungen gemeinsam ist jedoch der unumgängliche Gebrauch einer verallgemeinernden Abstraktion des Begriffes selbst zwecks Formulierung einer Theorie über das Wesen sozialer Prozesse. Die diesbezüglich mögliche Einwendung, eine Theorie sei nicht gültig, wenn sie nicht empirisch überprüfbar sei, verliert zumindest einiges von ihrer Eindeutigkeit, sobald man sich gezwungen sieht, den Bereich sogenannter »harter Variablen« zu verlassen, um sich mit Parametern wie »Image«, »Ansehen« u.s.w. auseinanderzusetzen; es stellt sich dann nämlich heraus, daß auch der zur Überprüfung der Abstraktion und ihrer Gültigkeit bestimmte Apparat mit Begriffen angefüllt ist, die in nichts anderem als den (wertbeladenen) Erwägungen des Forschers wurzeln.

      Wir betonen all dies, um herauszustreichen, daß es vor der Verallgemeinerung und der auf ihr gegründeten Abstraktion praktisch kein Entrinnen gibt15. Gleiches trifft auch für die Geschichtswissenschaft zu16, obwohl deren Selbstbestimmung als idiographische Wissenschaft die Vorstellung erwecken könnte, daß dem nicht so sei. Letztlich besitzt diese Wissenschaft kein wirklich eigenständiges Erkenntnis- und Erklärungsvermögen17; sie kann sich lediglich auf das Grundpostulat berufen, daß die von ihr angegangenen Phänomene


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