Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann
diesem jeweils wieder zusammenfügen.
Doch selbst wenn auf solche Weise festgelegt war, wie longa in breves und brevis in semibreves geteilt werden, geht es doch bei der mensuralen Notenteilung nicht einfach »immer so weiter«, sie lässt sich nicht wie im Taktrhythmus gesetzmäßig fortsetzen, zu immer kleineren, auf dieselbe Weise geteilten Werten. Für viele Jahrhunderte hatte es überhaupt nur longa und brevis gegeben, kleinere Werte erschienen zunächst lediglich im rhythmisch freien Laufwerk. Erst langsam hat die weitere Unterteilung der brevis zu einer selbständigen Notengattung geführt, eben der semibrevis, und es brauchte wiederum seine Zeit, bis sich aus dieser eine noch kleinere ergab.
Mit dem 13. Jahrhundert trat dann neben die Dreiteilung der brevis auch ihre mögliche Zweiteilung, tempus imperfectum genannt. Eine brevis war damit, »unvollkommen«, auch in zwei gleichlange semibreves zu teilen, so wie früher schon die longa den Wert von nur zwei statt drei breves haben konnte. Doch auch diese Zweiwertigkeit in der Notenteilung hat mit der des Taktrhythmus nichts zu tun. Jede weitere Unterteilung blieb noch immer auf die vollkommene, die Dreiteilung verpflichtet. Eine brevis aus zwei semibreves konnte nun also 1/2 + 1/2 geteilt werden; falls diese Teilung jedoch fortgeführt wurde, drittelte man die beiden Hälften wiederum und teilte eine brevis entweder so in drei semibreves auf: 3/6 + 2/6 + 1/6, oder aber so in vier: 2/6 + 1/6 + 2/6 + 1/6. Diese Art der Teilung konnte auch vorgeschrieben werden bei nur zwei semibreves, die zusammen eine brevis bilden sollten, und es kam zu 5/6 + 1/6. Eine semibrevis wie diese letztere, hier nur noch ein Fünftel der ersteren, wurde von den semibreves längerer Dauer dann namentlich als minima unterschieden und spaltete sich auf diese Weise schließlich als eigene Notengattung ab.
Die ars nova des Philippe de Vitry hat diese Verhältnisse im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts ratifiziert, indem sie nunmehr zwischen allen bestehenden Notengattungen, zwischen longa und brevis, brevis und semibrevis und schließlich semibrevis und minima dieselben Möglichkeiten der Teilung zuließ. Jeweils war es nun möglich, den größeren Notenwert nach der perfekten Proportion in drei zu teilen oder nach der imperfekten in zwei. Aber auch damit war es nicht endlich takt- und gesetzmäßig. Für jedes Musikstück wurde die Teilung eigens festgelegt, doch nicht etwa einheitlich von longa bis minima entweder auf perfekte oder auf imperfekte Teilung, sondern von jeder bestimmten Notengattung gesondert zu ihrer nächsten. Wurde etwa die longa perfekt in breves geteilt, also gedrittelt, so konnte die brevis unabhängig davon auch imperfekt in semibreves geteilt werden, also nach der Zweierteilung, und die semibrevis wieder perfekt, dreigeteilt, in minimae. Und selbst diese jeweilige Festlegung von Notengattung zu Notengattung konnte jeweils noch während des Verlaufs eines Musikstücks geändert werden, von der Dreierteilung auf Zweier- und von dieser wieder zurück auf Dreierteilung und so fort: Zeitverhältnisse, wie sie im Taktrhythmus unvorstellbar sind.
Die Zeitverhältnisse des mensuralen tactus müssen also uns unvorstellbar anmuten: unvorstellbar komplex. Unbegreiflich simpel dagegen die Art ihrer Notation, in der so vieles nicht explizit festgelegt wurde, sondern zusätzlichen Regeln anheim gegeben war: zum Beispiel noch, dass ein Notenwert einen vorangehenden oder nachfolgenden nächstgrößeren Wert »imperfizierte«, ihn zum zweizeitigen verkürzte, um selber dessen dritter Zeitteil zu werden; oder dass er, gegen solche Imperfektion, einen gleichen Notenwert zur Verdopplung seiner Dauer »alterierte«; oder dass andere Noten zwischen die zusammengehörigen Stücke eines unterteilten Notenwertes eintreten konnten, ohne deren Verbindung aufzuheben; und anderes mehr. All dies hat eine einfache Grundlage: jene ältere Rhythmuswahrnehmung, die den Zeitverlauf aus proportional aufeinander bezogenen Größen aufbaute. Aus ihr ergab sich das mensurale Rhythmusgebäude ganz natürlich, ihr wurde nicht schwer, es aufzuführen, ihr konnte es nicht anders sein als von den klarsten Maßen.
Nur mit unserer, der taktrhythmisch-gesetzmäßigen Rasterung der Zeit, verträgt es sich nicht: Vor deren Art von Einfachheit wird es kompliziert und unverständlich. Alle Merkmale mensuraler Rhythmik widerstreiten deren Gesetz und hätten unter ihm keinen Sinn: Es gäbe sie nicht, wenn dies Gesetz gewirkt hätte. Noch zur Zeit der mensuralen Rhythmik also, davon zeugt jedes einzelne ihrer Merkmale, kann es nicht wirksam gewesen sein; und so lange folglich kann es auch den Reflex der taktrhythmischen Synthesis noch nicht gegeben haben. Denn wo sie auftritt, da verwandelt sie den Rhythmus der Proportionen notwendig in einen Rhythmus nach Takten.
Epoche
Und das hat sie historisch getan.
An die Stelle der Mensuren hat sie das gesetzt, was seitdem den Rhythmus vorgibt: die Takte, die wir so durchaus für naturgegeben-ewig halten. Die lange Ewigkeit der material gebundenen Rhythmiken bricht erst ab mit dem Beginn der europäischen Neuzeit, verdrängt von dem, was zugleich mit dieser Neuzeit Epoche macht. Innerhalb kürzester Zeit setzen sich in Europa die taktrhythmischen gegen die mensuralen Bestimmungen durch und vernichten, was nur je bis dahin Rhythmus war. Die Rasterung nach leeren Zeiteinheiten mit ihrer Bindung an das Verhältnis von betont/unbetont, noch nie hatte es dergleichen gegeben, erst jetzt unterwerfen sie sich die Musik von den kleinsten Notenwerten bis hinauf zum Verlauf der Perioden. Den gesamten Rhythmus unterwerfen sie einem einzigen, mächtigen, ihrem Gesetz; und dieses schließt – so prinzipiell und so sehr auf diesen einen Schlag, auf den Taktschlag hin, wie es Georgiades beschrieben hat – sämtliche Charakteristika der älteren Verhältnisse aus. In der gesamten uns greifbaren Geschichte des Rhythmus reicht kein Epochenbruch so tief wie der, den das Aufkommen des Takts bewirkt.
Wie hat er sich vollzogen? Man wird erwarten: tumultuarisch, ein Einzug sozusagen mit Pauken und Trompeten – ein Gewitter von Traktaten, die für ihn streiten oder gegen ihn wettern, das Gegeneinander von Schulen, die eine Lanze brechen für das Neue oder erbittert gegen das moderne Zeug zu Felde ziehen, ein Kampf der Kirchen um die Rettung ihrer Musik vor diesem weltlichen Angriff, ein großer Reformator, der ihn trotzdem durchficht, die begeisterten Nachahmer, die ihm mit wehenden Fahnen nachfolgen, und die Legionen der Rückständigen, die sich irgendwann einmal doch geschlagen geben müssen.
So ließe sich wohl vermuten – wo immerhin ein gesamtes rhythmisches Prinzip bestritten und vernichtet wird durch ein anderes, unerhört neues. Doch wundersam: Nichts von alledem geschieht. Von diesem epochemachenden Umschlagen in den Taktrhythmus vernimmt man – nichts. Nichts wird davon geschrieen, nichts davon geredet, nichts davon notiert, es macht keinen Lärm, es vollzieht sich – soweit man davon in der Musik sprechen kann – lautlos: wie von selbst. Niemand ruft da zu etwas auf, niemand erkennt es, niemand weiß davon.
Buchstäblich: Niemand weiß von einer Neuerung – und das für sehr, sehr lange Zeit. Noch zwei Jahrhunderte später hatte Johann August Apel für seine blinde Überzeugung, »dass Rhythmus zu allen Zeiten einer sei« und »auf eignen, in der Natur gegründeten Principien beruhe«, das folgende schlagende Argument gegen die richtige historische Erkenntnis zur Hand:
Nimmt man an, die erste Musik sey taktlos, und mithin der Takt eine Erfindung der neuern Zeit gewesen, so hätte diese neue Erscheinung ohne allen Zweifel Epoche in der Geschichte der Musik gemacht. Eine ähnliche Erscheinung, die nur die Veränderung der herrschenden Taktart in der kirchlichen Musik betraf, macht wirklich Epoche und blieb unvergesslich. Es war die Einführung des Gregorischen Gesanges an die Stelle des Ambrosischen […]. Allein nirgends findet man in der Geschichte der Musik einen Zeitpunkt bemerkt, wo aus taktlosen Rhythmen ein Uebergang zu dem gleichmässigen Takt statt gefunden habe. Der Takt erschien also niemals als etwas neues, zuvor noch unerhörtes, und so darf man wohl auch für historisch ausgemacht annehmen, dass er von Anfang an den Rhythmen eigenthümlich gewesen sey.44
So durfte Apel für ausgemacht annehmen, weil bis zu seiner Zeit tatsächlich noch immer niemand wusste, dass da überhaupt ein »Uebergang« stattgefunden hatte. Sehr wohl wusste man beispielsweise von »der Einführung des Gregorischen Gesanges an die Stelle des Ambrosischen« und durfte von ihr rühmen, sie sei unvergesslich geblieben, habe Epoche gemacht. Auch geht