Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann
aber unmöglich unter den mensuralen Verhältnissen. Descartes erkennt darin sogar die Potenzierung der elementaren Gruppe, da er erklärt, für die Teilung durch vier oder acht werde kein neues Verhältnis eingeführt, sondern die Zweier-Teilung lediglich mit sich selbst multipliziert: »est tantum proportio dupla multiplicata«. Die potenzierte Gruppenbildung wird bei Descartes also, wie dann üblich, allein mit der Zweier-Teilung fortgesetzt und spart die Dreier-Teilung aus. Auf Zweier- und Dreier-Gruppe jedenfalls basieren die nur insgesamt zwei Taktarten, auf welche die Musik durch das Takt-Gesetz verpflichtet ist:
Ex his duobus proportionum generibus in tempore orta sunt duo genera mensurarum in Musica
Die Takte heißen noch immer mensurae, doch nunmehr erhalten sie etwas, was sie aufs entschiedenste vom mensuralen tactus trennt: die Hervorhebung bestimmter Taktteile, eine größere intensio, die sich laut Descartes so einstellt,
ut initio cujusque battutae distinctius sonus emittatur,
»dass der Ton am Anfang eines jeden Takts hervorgehoben wird«. Damit, mit der gesetzmäßigen Betonung bestimmter Zeiteinheiten, ist die spezifische Beschreibung des Taktrhythmus vollständig. Die Hervorhebung jeweils der ersten Zeiteinheit, von zweien im Zweier- oder von dreien im Dreier-Takt, das taktrhythmische Verlaufsgesetz des Betonungswechsels mit jeweils einer oder mit zwei Unbetonten: hier sind sie zum historisch ersten Mal beschrieben.
Für uns versteht sich dieses Abwechseln von betont und unbetont zutiefst von selbst. Und für Descartes? Schon ganz genauso:
quod naturaliter observant cantores et qui ludunt instrumentis
»Das beachten die Sänger und Instrumentalisten ganz natürlich«. Weshalb sie es beachten, dafür gibt es für Descartes keine andere Begründung als gegebene Natur: Es stellt sich »natürlich« ein, naturaliter. Bis wenige Jahre zuvor hatte es sich noch nie eingestellt, gerade erst ist es historisch aufgekommen, gerade erst setzt es sich an die Stelle vollständig anderer Verhältnisse und weiß doch von keinem Entstehen, weiß von keiner Veränderung, es scheint Natur von allem Anfang an. Es gibt sich Descartes, der dem geschichtlichen Hervortreten dieses eben deshalb nicht Naturgegebenen unmittelbar beiwohnt und also unendlich viel näher steht als wir, schon genauso vollständig und naturgegeben vor wie eben uns.
Und genauso wie wir, die deshalb blind davon überzeugt sind, der Rhythmus nach Takten läge in der Natur der Sache statt daran, wie uns die Wahrnehmung diese Sache vermittelt, kann es sich schon Descartes nicht mehr anders vorstellen, als dass der Rhythmus, den wir hören und empfinden, einfach objektiv im Klang läge, unabhängig von dem, der ihn hört. Descartes’ Erklärung dafür, dass Rhythmus »naturaliter« nach dem betont/unbetont verlaufe, heißt demnach:
Sicher ist nämlich, dass der Klang alle Körper ringsum in Erschütterung versetzt, wie man es bei Glocken und bei Donner feststellen kann; den Grund dafür zu suchen, überlasse ich den Naturgelehrten. Doch da dem offensichtlich so ist und da wie erwähnt der Ton am Anfang jedes Taktes hervorgehoben und stärker gespielt wird, so muss man sagen, dass auch er unser Gemüt stärker erschüttert, durch welches wir zur Bewegung angeregt werden. Daraus folgt, dass auch wilde Tiere nach dem Takt tanzen können, wenn sie es gelehrt und daran gewöhnt werden, weil es dazu nur eines natürlichen Antriebs bedarf.
Eine wilde Behauptung: Noch der am besten abgerichtete Tanzbär tanzt nicht nach Takten, und nicht einmal du, guter Kuckuck, wo es bei deinem Ruf doch so natürlich nahe läge, hältst den Takt fein innen, auch wenn es das schöne Lied aus des Knaben Wunderhorn der Fabel wegen behaupten muss. Immerhin: Anders als bei Canetti, wo die Menschen den Taktrhythmus von den Tieren lernen sollen, lässt ihn Descartes die Menschen umgekehrt den Tieren beibringen und bekennt damit ein, sowenig es sich mit seiner mechanischen Schalldruck-Erklärung verträgt, dass dort Menschen ihren Rhythmus erst auf die Tiere übertragen müssten, dass den Tieren die Takte also durchaus nicht – einfach mittels der klanglichen Erschütterung – »von Natur aus« eingehen.
Dass es mit dieser Erschütterung durch die Schallwellen, dass es mit der bloßen physikalischen Klangwirkung nicht getan ist, erkennt Descartes nämlich andererseits sehr wohl. Er, der erste, der den Taktrhythmus beschreibt, erkennt ja auch als erster, dass unsere Wahrnehmung daran aktiv beteiligt ist, dass da nicht einfach nur Klänge in unseren sensus fallen und ihn mehr oder weniger erschüttern, sondern dass dieser sensus selbst wirksam wird, eine Art imaginatio entfaltet, wie Descartes sagt, eine Einbildungskraft, die jene rhythmische Klangordnung »aktiv-synthetisch« herstellt. Descartes, der klare Denker auch hier, beschreibt in einer Genauigkeit, die ihm für Jahrhunderte keiner nachmachen wird, was wir beim taktrhythmischen Hören unwillkürlich leisten, zeichnet nach, wie wir jeweils zwei Zeiteinheiten zu einer Gruppe zusammenfassen und jeweils alle nachfolgenden Gruppen zurückbeziehen auf die früheren und mit diesen wiederum zu potenzierten Zweiergruppen verbinden, zu Perioden nach den Zweierpotenzen.
Diese so beschaffene Proportion [sc. der Zweier- und Dreier-Gruppe] wird aber sehr häufig in den Gliedern einer Melodie eingehalten, damit sie unsere Wahrnehmung so unterstützen kann, dass wir uns, während wir eben noch die letzte Zeiteinheit hören, dessen erinnern, was in der ersten war und was in der übrigen Melodie. Das geschieht, wenn die gesamte Melodie entweder aus 8, 16, 32 oder 64 Gliedern besteht, so dass also alle Teilungen von der zweifachen Proportion ausgehen. Während wir nämlich die zwei ersten Glieder hören, nehmen wir sie als Einheit wahr, und während wir noch das dritte Glied dazu hören, verbinden wir es mit jenen [zwei] ersten, so dass eine dreifache Proportion entsteht; daraufhin, während wir das vierte hören, verbinden wir dieses mit dem dritten, so dass wir sie als Einheit wahrnehmen; dann verbinden wir wiederum die zwei ersten mit den zwei letzten, so dass wir diese vier zugleich als Einheit wahrnehmen; und so schreitet unsere Einbildungskraft fort bis zum Ende, wo sie schließlich die ganze Melodie als eine einzige Einheit aus vielen gleichen Gliedern auffasst.
Wie staunenswert genau beschreibt Descartes hier die Wirksamkeit der Synthesis! Und wie nachdrücklich also belegt er, dass diese Synthesis in ihm wirksam ist. Durch sie wird ihm Rhythmus – vollständig und natürlich – Taktrhythmus. Die Musikwissenschaft nämlich hat mit Erstaunen quittiert, dass Descartes bereits von einer Periodenbildung spricht, die bis zur Zweierpotenz 64 reicht, lange bevor in der Musik ähnlich weitgestreckte Perioden verwirklicht wurden. Es ist aber kein Wunder: Descartes wird zum Prophet solcher Perioden ganz einfach deshalb, weil er die potenzierte Gruppenbildung nicht erst der Musik zu entnehmen braucht, sondern sie nach dem Reflex selbst bildet. Um sie zu kennen, braucht er deshalb nicht erst auf ihren Niederschlag und ihre Verwirklichung in der Musik, sondern braucht er nur in sich selbst zu hören.
Und aus demselben Grund gibt es für ihn keinen älteren Stand von Rhythmus mehr, obwohl dieser in der Musik jener Zeit sehr wohl noch nachwirkt. Genauso tief, wie uns die Empfindung für den antiken Rhythmus verloren ist, ist schon für Descartes die des mensuralen verloren. Wer nach der taktrhythmischen Synthesis hört, der hört eben unwillkürlich ihren und nur ihren Rhythmus, empfindet diesen als rhythmisch und kann nur ihn sich noch als Rhythmus vorstellen. Das gilt für Hegel, für Nietzsche, Canetti, gilt für jeden von uns; und gilt auch schon für den Zeitgenossen jenes Umschlags, für Descartes. Vom alten, dem noch nicht von jener Synthesis durchwirkten Rhythmus ist für denjenigen nichts mehr vorhanden, in dem die Synthesis wirkt: eben deshalb, weil sie wirkt. Deshalb verdrängt dieses Neue das Alte so gründlich, als hätte es dies nie gegeben. Über solche Kraft verfügt es selbst im Moment seines frühesten Hervortretens – eine geschichtsvernichtende, eine geradezu furchterregende Kraft!
Ein zweites Dokument noch soll sie belegen, eine weitere zeitgenössische Schrift, an der vielleicht schärfer noch als an Descartes’ Compendium deutlich wird, wie sich der Wandel zur taktrhythmischen Wahrnehmung, wie sich also das Hervortreten des Taktreflexes historisch vollzieht; ich wüsste kein eindrücklicheres Zeugnis für dessen historisches Wirksam-Werden.
Es ist die Schrift, mit der ein deutscher Dichter die Akzentverse einführt. Dies Gründungsdokument »unseres« Rhythmus in deutschen Versen,