Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann

Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann


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Nur: Wer hätte die Menschen gelehrt, erst genau dieses Geräusch als rhythmisch zu erkennen und nicht schon das Rauschen der Blätter oder das Plätschern des Bachs?

      Wem jetzt die Antwort einfällt: Weil das eine Geräusch rhythmisch ist und die beiden anderen nicht, der eben trifft – wie Canetti selbst – genau die Unterscheidung, die doch erst »ursprünglich« hergeleitet werden soll: Die Bestimmung »rhythmisch« und also die Unterscheidung nach rhythmisch oder nicht sollte das Ergebnis der Herleitung sein und wird es aber nur, indem sie dafür in aller Pracht schon vorausgesetzt wird. Canettis eingängige Herleitung stellt die Dinge ganz einfach auf den Kopf. Die Dinge tragen zwar allerlei Unterschiede an sich, wenn sie auf die Welt kommen und solange sie auf der Welt sind, aber sie geben nicht die kategorialen Unterscheidungen vor, mit denen dann die Menschen sie belegen. Kein Geräusch trägt die Aufschrift mit sich herum: Mich empfinde und beurteile unbedingt als rhythmisch! oder: Mich empfinde und beurteile um Himmels willen keinesfalls als rhythmisch! Eine solche Unterscheidung geht nicht von den Dingen aus, sondern notwendig von den Menschen, die sie vornehmen. Und die Erkenntnis, dass es sich mit dergleichen so verhält, ist inzwischen steinalt; nur just beim Rhythmus hat sie sich noch keinmal einstellen wollen. Seltsam genug.

      Indem Canetti von der Entstehung eines spezifisch rhythmischen Klangs schreibt, hat er notwendig die Unterscheidung zwischen rhythmischen und nicht-rhythmischen Geräuschen getroffen, und er muss sie treffen: eben weil unsere Empfindung es tut. Sie nimmt diese Unterscheidung nicht bloß begrifflich, sondern ohne Unterlass real vor, indem sie auf einen Klang, den sie als rhythmisch wahrnimmt, in einer Weise reagiert, die sich bei anderen Klängen nicht einstellt. Deshalb ist kein Ton, kein Geräusch, kein Ereignis je als solches rhythmisch, keines kann es von sich aus sein. Man muss sie schon als rhythmisch empfinden, damit sie überhaupt erst zu Rhythmus werden, nämlich bestimmt werden. Andererseits: Was liegt daran? Ob er jetzt im Klang selbst liegt oder erst des Subjekts bedarf, das ihn dann erst im Klang wahrnimmt – was ist damit gewonnen? Denn eines ist doch ganz sicher nicht zu bestreiten, nämlich dass wir – nur Vorsicht: das »wir« ist ein verfängliches Pronomen –, dass also wir das Geräusch von Schritten tatsächlich als rhythmisch empfinden. Geradeso wie Canetti. Zu fragen ist deshalb vor allem, welche Art von Klang oder Geräusch wir als rhythmisch empfinden. Wodurch ist jener Klang charakterisiert, dass sich bei uns diese Empfindung einstellt – und zwar derart fraglos und »ursprünglich«, dass jedermann die Annahme zwingend erscheint, »der Mensch« und »jeder Mensch« müsse es von den Ursprüngen an stets genauso empfunden haben wie wir?

      Canetti beschreibt es so: Erstens, der Mensch »geht«, indem er »immer wieder« mit den Füßen »am Boden aufschlägt« – das also ergibt eine Folge von Tönen, die mit etwa gleichem Zeitabstand erklingen. Zweitens: Der Mensch geht »auf zwei Beinen«, »abwechselnd« mit dem einen und mit dem anderen Fuß auftretend, aber mit dem einen »nie mit genau derselben Kraft« wie mit dem anderen – die Töne werden also zweiwertig nach ihrer Stärke geschieden, stärker der eine und schwächer der andere, und sie folgen in dieser Abstufung stärker/schwächer abwechselnd aufeinander. Und drittens besteht noch die Möglichkeit unterschiedlicher Tempi, Pausen und Modulationen. Canettis Ursprungsmythos vom Rhythmus beschreibt also das folgende »Geräusch«: eine modulierbare Folge von Tönen in gleichen Zeitabständen, die nach stärker und schwächer betont abwechseln.

      Diese Art Klang ist in unseren Ohren zweifellos rhythmisch, wir empfinden ihn als rhythmisch, er geht uns als Rhythmus ein, so unwillkürlich, wie uns eben das tok tok gehender Füße mit einem leichten Abwechseln nach tik und tak ins Ohr geht. Aber: Was wir auf diese Weise als rhythmisch empfinden und was Canetti auf diese Weise beschreibt, das – der Leser mag es mir zunächst einfach glauben – ist nicht etwa ein für allemal Rhythmus, ist nicht Rhythmus im allgemeinen, nicht an und für sich Rhythmus, sondern es ist die einfachste Spielart nur einer ganz bestimmten Art von Rhythmus: des Taktrhythmus. Und diesen gibt es nicht seit Menschen- oder Tieresgedenken, sondern erst seit Beginn der Neuzeit. So spät erst, und zunächst nur in den Gesellschaften Mittel- und Westeuropas, beginnt man dies als Rhythmus zu empfinden, beginnt Taktrhythmus »der« Rhythmus zu werden, setzt es ein, dass Menschen Rhythmus unwillkürlich nach dem tik-tak von betont und unbetont, nach gleichen Zeiteinheiten und das eben heißt: nach Takten hören – so wie Canetti und so wie wir heute recht ausnahmslos alle.

      Eine solche Feststellung, die ich bitte belegen möge, hat sehr weit reichende Folgen – und recht verwirrende außerdem.

      Denn sie bedeutet: So wie wir Rhythmus empfinden, haben ihn Menschen nicht schon immer, ursprünglich und allerorten empfunden. Und sie bedeutet: Ein Geräusch, das uns rhythmisch ist, und wäre es ein ursprünglichstes wie dasjenige gehender Füße oder klopfender Herzen, ist nicht einfach von sich aus und schon immer ein rhythmisches, sondern wird es erst und nur dann, wenn es Menschen wahrnehmen, die nach dieser Art von Rhythmus wahrnehmen, Menschen, deren Rhythmuswahrnehmung wie die unsere taktrhythmisch bestimmt ist. Und das beginnt sie erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu sein.

      Das ist eine Vorstellung, gegen die sich alles in uns sträubt. Schon dass ein bestimmter Rhythmus nicht einfach nur objektiv im Klang selbst liegen soll, dass also Klänge nicht schon von sich aus rhythmisch sein, sondern es durch uns werden sollen, widerstrebt uns zutiefst. Und umso mehr also, dass dieselben Klänge, die wir als rhythmisch hören, den Menschen früherer Zeiten nicht rhythmisch geklungen hätten. Das ist etwas, was wir uns ganz grundsätzlich nicht vorstellen können, und kein Zufall deshalb, wenn auch Canetti nicht umhin konnte, Rhythmus irrtümlich erstens dem Klang selbst und zweitens in eben der Art, wie wir ihn wahrnehmen, allen Zeiten zuzuschreiben. Dies ist ein Irrtum, der jedem unterläuft, überall wird man auf ihn treffen, nicht nur in der eigenen Überzeugung, in dem, wie man selbst darüber denkt, sondern bei jedem anderen ebenso – selbst dort, wo ausgesprochene Spezialisten über Rhythmus geschrieben haben. Dass Taktrhythmus, »unser« Rhythmus, erst etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufkommt, gehört zwar inzwischen – aber auch das noch nicht sehr lange – zum musikgeschichtlichen Handbuchwissen,4 trotzdem ist es, auch unter wohlstudierten Musikwissenschaftlern, so gut wie unbekannt. Bemerkenswert genug: Es ist festgestellt, steht fest, und bleibt doch unvorstellbar.

      Es wird wichtig sein, sich schon hier, vor allem Kommenden, Rechenschaft über die Irritation abzulegen, die ein solcher Gedanke auslöst: dass dieses Allernatürlichste, Rhythmus, weder in den Dingen selbst, also einfach im Klang liegen soll, noch in unserer allgemeinen menschlichen Natur – wenn nicht gar in der Natur als solcher. Wie denn soll sich unsere Wahrnehmung, dass irgendetwas, zum Beispiel etwas so Eingängiges wie das tok tok von Schritten für uns einfach und natürlich rhythmisch ist, wie soll sich diese Wahrnehmung damit vertragen, dass für Menschen früherer Zeiten dasselbe nicht, sondern dass für sie etwas grundsätzlich anderes rhythmisch war?

      Das muss absurd erscheinen, ausgeschlossen, eine Unmöglichkeit, es ist uns in einem sehr ernst zu nehmenden Sinne nicht denkbar. Dennoch ist die Erkenntnis, dass es sich so verhält, zwingend und fürs erste nicht einmal schwierig zu gewinnen. Man braucht dafür gar nicht erst zurückschreiten bis zu den Jägern und Sammlern; der kleinere Zeitsprung in die Antike wird vollauf genügen.

      »Ursprünglich«, so meinte Canetti, sei Rhythmus ein Rhythmus der Füße; ursprünglich jedenfalls ist »Rhythmus« ein Wort der Griechen. Über eine indogermanische Wurzel mit dem deutschen Wort »Strom« verwandt, leitet es sich – vermutlich – von dem griechischen Verbum »rhéein« ab, »fließen«; man kennt es aus Heraklits berühmtestem Satz. Rhythmus heißt daher zunächst jede Bewegung, dann vor allem das Zeitmaß und Ebenmaß einer Bewegung; weiter aber nicht nur das Ebenmaß einer Bewegung, sondern Ebenmaß allgemein, auch räumlicher Verhältnisse, der Gestalt eines Gefäßes oder gar der seelischen Verfassung. Sicher, in ehrwürdigen alten bis hin zu allerneuesten Wörterbüchern, ebenso in jederart Übersetzungen antiker griechischer Schriften findet man für das Wort »Rhythmos« geläufig auch die Bedeutung »Takt« angegeben; doch schon


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