Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann
Rhythmuswahrnehmung. Irgendeine andere Art von Rhythmus als die »unsere« zu empfinden gelingt uns so wenig, wie wir es eben an den antiken Versen bemerken mussten; insofern aber gibt es für uns auch keine andere. Unsere Rhythmuswahrnehmung schließt die Wahrnehmung einer anderen Art von Rhythmus aus; und nicht nur die Wahrnehmung, sondern unwillkürlich und mit großem Nachdruck auch den Gedanken.
Der Gedanke, dass Menschen etwas grundsätzlich Anderes als Rhythmus könnten empfunden haben, als wir es tun, verwehrt sich uns, so einfach die Feststellung auch zu treffen wäre. Die Frage, ob wir unsere Rhythmuswahrnehmung zu Recht allen Zeiten vor uns unterstellen, stellen wir uns gar nicht erst, so selbstverständlich und unwillkürlich unterstellen wir unseren Rhythmus als den einzig möglichen. Und das heißt: So weit reicht der Zwang, den die Rhythmusempfindung über uns ausübt. Dieser Zwang hat Macht auch über die Reflexion.
Nietzsche zum Beispiel erkennt ihn – und zeigt sich ihm sogleich unterworfen:
Der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! 8
Und schon hat Nietzsche zwingend auch geschlossen, Rhythmus ginge immer »dem Tacte nach«. Anders als Canetti will er nicht den Ursprung von Rhythmus, sondern umgekehrt Rhythmus zu einem Ursprung erklären, und zwar zum »Ursprunge der Poesie«: Alle Poesie und alle Verse entsprängen dem Rhythmus und seinem Zwang. Da es aber nur den einen, nur Rhythmus »dem Tacte nach« geben soll, müssten nach Nietzsches blinder Überzeugung auch die Verse und die Musik der Antike, von der er hier spricht, nach »dem Tacte« gegangen sein – was sie nicht taten.
Und so schreibt immerhin Nietzsche, Professor der klassischen Philologie und zudem einer der wenigen seiner Zeit, die irgendwann einmal doch etwas von der tiefen Kluft zwischen antikem Rhythmus und moderner Taktrhythmik erkennen.9 Dem Zwang, den Nietzsche beschreibt, vermag er sich zuweilen als Philologe, nicht jedoch in seiner philosophischen Erkenntnis zu entziehen. Seine Annahme mag ja durchaus zutreffen, Versdichtung habe ihren Ursprung in »jener elementaren Ueberwältigung […], welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt« und die es sicher nicht erst seit Neuzeit und Taktrhythmus gibt. Aber fehl geht er in dem unbedachten Glauben, die Überwältigung müsse immer an dieser Art Rhythmus erfahren worden sein, es müsse »der« Rhythmus, es müsse immer dieselbe Art von Rhythmus gewesen sein, so elementar wie jene Überwältigung selbst. »Narren des Rhythmus« seien wir »noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit«, gar nichts habe sich da geändert seit den Zeiten des Ursprungs. Diesen Ursprung aber finden wir nicht etwa geschichtlich vor, wir glauben ihn allein an unserer, an der uns gegenwärtigen Überwältigung zu empfinden; an ihr empfinden wir dies zwingend Unwillkürliche, das wir ebenso zwingend deshalb als ursprünglich mißverstehen und als »Ursprung« in die Zeiten zurückverlegen.
Längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu die Affekte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, – das war das Rezept dieser Heilkunst
– aber kein Rezept hilft gegen die blinde Annahme, »das Rhythmische« ginge stets »in dem Tacte«, wäre immer schon »das rhythmische Tiktak« gewesen, wie Nietzsche dann noch ausdrücklich schreibt: also Taktrhythmus. Dass in der Antike nichts nach Takten, nichts nach dem Tiktak von betont und unbetont ging, als Philologe weiß es Nietzsche; dem Philosophen jedoch will das gar nichts helfen.
Nein, alles geschichtliche Wissen verliert seine Kraft, wenn man aus diesem Zwang der Gegenwart konstruiert. Hegel bestimmt in seinen »Vorlesungen über die Ästhetik«, wie es sich mit dem Rhythmus grundsätzlich verhalten müsse.
Dritter Teil, Dritter Abschnitt, Zweites Kapitel: Die Musik
2. Besondere Bestimmtheit der musikalischen Ausdrucksmittel
a. Zeitmaß, Takt, Rhythmus
Was nun zunächst die rein zeitliche Seite des musikalischen Hörens betrifft, so haben wir erstens von der Notwendigkeit zu sprechen, dass in der Musik die Zeit überhaupt das Herrschende sei; zweitens vom Takt als dem bloß verständig geregelten Zeitmaß; drittens vom Rhythmus, welcher diese abstrakte Regel zu beleben anfängt, indem er bestimmte Taktteile hervorhebt, andere dagegen zurücktreten lässt.10
Zeit, Takt, Rhythmus, das geht in einem dahin, als könne es gar nicht anders sein, als ergäben sich Takt und Rhythmus allein schon daraus, dass Musik in der Zeit verläuft. Takte, das sind hier fürs erste die gleichen und leeren Zeiteinheiten, Rhythmus heißt dann deren Ordnung nach betont/unbetont, nach hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben, und das macht insgesamt: den Taktrhythmus. Er, der so strikt der Neuzeit angehört und keiner Zeit vorher, wird von Hegel mit derselben Notwendigkeit als der ewig-eine Rhythmus vorausgesetzt, mit der sich etwa der Weltgeist ausgerechnet im preußischen Staat verwirklicht haben soll.
Selbst der große Philosoph der Geschichte und des absoluten Wissens will in diesem Punkt also von Geschichte absolut nichts wissen, so wenig wie der philosophierende DJ heutiger Tage, der von den Bum-Bum-Taktschlägen des Techno – »Techno wird über das Bum-Bum zusammengehalten« – gleich einmal weiß, dass »die Neandertaler« es schon vor Urzeiten »auf hohle Bäume geklopft« hätten und der ganze Unterschied zu heute darin bestünde: »Technomusik macht das elektronisch.«11
Und wem wollte das nicht einleuchten? Wer kann es sich heute denn anders vorstellen, als dass Trommeln, die geschlagen werden, notwendig im Takt schlügen? Als dass ein urwüchsiger Mensch, indem er irgendwelches Bum Bum macht, damit unweigerlich den Taktschlag eingehalten hätte? Als dass die Weltmusik, wie sie heute heißt und heute fast ausschließlich nach Takten erklingt, deshalb schon zu ethnotümlichen Urzeiten nach Takten hätte gehen müssen? Der zwingende Irrtum einer Gleichung Rhythmus = Taktrhythmus findet sich ganz allgemein – bis hinauf oder bis hinab zu den Philosophen, die da, ganz Empfindung, nur glauben in sich hineinhorchen zu müssen, um das, worauf sie dort so unhintergehbar treffen, sogleich für das Ewig-Natürliche zu halten.
Und natürlich Natur
Nun sprechen hier auch Philosophen allerdings als Laien; wissen es die Fachleute besser?
Nein, die unternehmen es gar zu beweisen, dass es so sein müsse, wie es schon die Philosophen glauben; dass nämlich, »was unsre Vorfahren die Weise, die Römer Numerus und die Griechen Rhythmus nannten«, »auf eignen, in der Natur gegründeten Principien beruhe«.12 So schreibt zur gleichen Zeit etwa, als Hegel seine Vorlesungen zur Ästhetik hält, Johann August Apel in seinen zwei großen Bänden »Metrik«. Auch Apel weiß zwar, dass griechische Verse nach Längen und Kürzen gebaut sind – das ist immerhin ausführlich und unmissverständlich überliefert –, und er bemerkt sehr wohl auch den eigenartigen Ausschluss, der sich dadurch ergibt, dass wir Rhythmus inzwischen anders wahrnehmen als etwa die Griechen. Zu Apels Zeiten nämlich erging es einem Leser antiker Verse schon genauso wie uns heute – ich erinnere an unser kleines Experiment mit den Trimetern –:
Denn er bemüht sich vergebens mit dem Gehör dieses Schema singbar zu finden, und gleichwohl kann er sich nicht abläugnen, dass jene Stelle des Sophokles ein Vers sey, und das metrische Schema den Rhythmus jenes Verses bezeichne.
Leider also: Der moderne und Apels Zeitgenosse »bemüht sich vergebens«, das als Rhythmus zu empfinden, was ein antiker Sophokles aber, ebenso sicher wie Horaz, als den Rhythmus seiner Verse gedichtet hat. Was kann man daraus nur schließen? Dass Rhythmus hier und dort nicht dasselbe sind; dass sich, was Rhythmus hier ist und dort war, historisch gewandelt hat. Folglich kann Rhythmus auch nicht auf einem Naturgesetz gründen, und man dürfte also auf keinen Fall ansetzen, »dass der Bau des Verses auf eigenthümlichen,