Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
ihres (politischen) Selbstverständnisses, ihrer Themenwahl und hinsichtlich ihrer Positionierung im Feld der Kultur gravierend voneinander unterscheiden.
Der Terminus Kulturwissenschaften ist so mehrdeutig wie der Kulturbegriff, auf den sich diese beziehen. Er meint zum einen in einem schieren Akt der Umbenennung das Ensemble der bisherigen human- bzw. geisteswissenschaftlichen Fächer, zum anderen aber auch ein transdisziplinäres Bündel von Fächern, die sich in der Erforschung des mehrdimensionalen Phänomens der Kultur zusammenschließen (Ethnologie, Literaturwissenschaften, GeschichteGeschichte, Volks- und Völkerkunde), er meint aber auch eine institutionell verankerte, in sich selbst transdisziplinäre Einzeldisziplin (Kulturwissenschaft; Cultural StudiesCultural Studies). Der Autor des Buches bekennt, dass er mit dem Vorschlag der niederländischen Kulturforscherin Mieke BalBal, Mieke sympathisiert, den Begriff der KulturanalyseKulturanalyse im Sinn eines konsistenten transdisziplinären Projekts ins Spiel zu bringen, um sowohl der RhetorikRhetorik der reinen Umbenennung als auch dem Dilemma einer neuen Superdisziplin, die mehr verspricht als sie halten kann, zu entgehen.
Der kulturelle Wandel umfasst, wie gesagt, inhaltliche wie formale Aspekte, neue Themen wie GeschlechtGeschlecht (Gender), Geschlecht-,, PostkolonialismusPostkolonialismus, postkolonial, NationalismusNation, Nationalismus, national, aber auch die Erforschung neuer medialer Formate und Inszenierungsformen (digitale MedienMedien, Medien-, -medien, medien-, Museum als MediumMedium, Ausstellungen etc.). Pointiert gesprochen sind die traditionellen Literaturwissenschaften tendenziell zu historischen Disziplinen geworden, weil das Medium BuchBuch (als Medium) in der Kultur der HypermoderneModerne, modern, -moderne ein Medium unter vielen geworden ist und damit seinen privilegierten Standort im kulturellen Gesamthaushalt endgültig eingebüßt hat. Die methodische Neubestimmung wiederum zielt auf die mittlerweile modisch gewordenen, von den verschiedensten Forschungsgruppen und claims ausgerufenen Wenden, Volten und turns. Diese reichen bekanntlich von der linguistischen, über die mediale bis zur performativen oder spatialen Wende.
Unbestritten in ihrer Bedeutung ist indes die linguistische WendeLinguistische Wende, die sich zumal im deutschsprachigen akademischen Milieu niemals – als unhintergehbares Paradigma – durchsetzen konnte und bis zu einem gewissen Grad eine Randerscheinung geblieben ist. Im Hinblick auf das Verständnis von sprachlichem SymbolismusSymbolismus und seinem konstruktiven, weltaufbauenden Charakter lassen sich grob gesprochen Typen von Kulturtheorien unterscheiden: jene traditionellen Theorien, die vornehmlich mit dem binären Gegensatz von Kultur und NaturNatur operieren, und solche, die den konstruktiven Charakter der Kultur hervorheben. In diesen Konzepten von Kultur verschwindet der traditionelle Gegenbegriff der Natur fast vollständig. Im Gegensatz hierzu und in Abgrenzung zu einem radikalen Konstruktivismus begreift der Autor Begriffe wie Natur, Wirklichkeit und Realität als unabdingbare Grenzwerte gerade im Hinblick auf die politische Dimension der kulturellen Wende. Die zunehmende Bedeutung diverser MedienMedien, Medien-, -medien, medien- kann im Lichte eines semiotischen Verständnisses von Kultur erfasst und analysiert werden.
Die vorliegende Einführung, die an einigen Stellen an das methodische Grundlagenwerk Die Kultur und ihre NarrativeNarrative (2002/2008) anschließt, möchte nicht die vorhandenen Einführungen in die Kulturwissenschaften (→ Bibliographie) um ein weiteres BuchBuch (als Medium) vermehren, sondern einen Einblick in jene Theorien geben, die im KontextKontext der kulturellen Wende in den Human- und Sozialwissenschaften von Belang sind. Dieses Buch geht auf Lehrveranstaltungen zurück, die der Verfasser zwischen 2002 und 2005 in Wien, Szeged, Innsbruck, Neu Delhi und Mumbai (Bombay) gehalten hat. Der Begriff Kulturtheorie wurde bewusst gewählt, nicht nur um den schwammig gebliebenen Begriff der Kulturwissenschaften zu umgehen, sondern vor allem, um den Studierenden einen Einstieg in relevante Theoriebildung im Umfeld der neuen kulturwissenschaftlichen DiskurseDiskurs zu ermöglichen. Eine theoretische Orientierung scheint heute in dem durch den Terminus Kultur beschriebenen Forschungsfeld ein Gebot der Stunde.
Bei einer Einführung bleibt die Qual der Wahl. Der Verfasser hat sich auf Theorien konzentriert, die einen expliziten theoretischen Anspruch verfolgen und die eine Methodologie entwickelt haben, die für die Analyse kultureller Phänomene – synchron wie diachronDiachronie, diachron – adaptierbar sind. Er versteht diese methodischen Zugänge im Sinne von intelligenten Werkzeugen zur Orientierung, Analyse und ReflexionReflexion. Dabei wird en passant deutlich, dass die Fokussierungen, die heute das Gütesiegel des Kulturwissenschaftlichen erhalten, sehr viel älter sind als die Bezeichnung.
Ausgeschieden aus den Diskursgeschichten der Kulturtheorie wurden insbesondere thematische Schwerpunktbildungen, die heute zwar zentral in den Kulturwissenschaften sind, über die es aber entsprechende Einführungen gibt: Geschlechterforschung, InterkulturalismusKulturalismus, -kulturalismus, Nationalismusforschung, PostkolonialismusPostkolonialismus, postkolonial, GedächtnisGedächtnis und ErinnerungErinnerung, Neue MedienMedien, Medien-, -medien, medien-. Sie sind in den letzten Jahren ausführlich in Überblicksdarstellungen zusammengefasst worden. Auf sie wird im vorliegenden Band indes immer wieder als relevante Forschungsfelder verwiesen.
Dem Autor war es, im Unterschied zu vielen verfügbaren Einführungen in das kulturwissenschaftliche Studium, wichtig, sowohl relevante Theorien aus dem deutschsprachigen wie aus dem frankophonen oder englischsprachigen KontextKontext vorzustellen.
Das heißt nun nicht, dass sich das vorliegende BuchBuch (als Medium) nicht mit anderen Einführungen verbinden und kombinieren ließe. Im Gegenteil. Jedes Kapitel ist so konzipiert, dass es sich auf einen programmatischen Aufsatz bzw. ein exponiertes Kapitel und auf einen Theoretiker konzentriert, der eine konstitutive Rolle in dem jeweiligen, durch ihn geprägten DiskursDiskurs spielt. Was das Buch befördern will, ist die Fähigkeit abstrakte Texte – ohne simplifizierende Schaubilder – intensiv zu lesen und zu hinterfragen. Das scheint mir gerade angesichts der dramatischen medialen Veränderungen nötig, die einschneidende Folgen für die Lehr- und Unterrichtspraxis haben. Angesichts der Möglichkeit, ganze Bücher und Aufsätze aus den digitalen Netzwerken herunterladen und entsprechend frisieren zu können, kommt der Vermittlung elementarer KulturtechnikenTechnik, -technik wie der exakten Lektüre und dem aneignenden Kommentieren zentraler Texte und Passagen eine enorme Bedeutung zu. Überblicksdarstellungen neigen nicht selten zu einer panoramischen Überschau, in der die Denkweise einzelner Theoretiker und Theoretikerinnen sich verliert. Die jeweils verschiedene Denkweise von Autorinnen und Autoren im Feld von Kulturwissenschaft und KulturanalyseKulturanalyse deutlich zu machen und damit einen Beitrag zur Vertiefung kulturwissenschaftlichen Denkens zu leisten, ist erklärtes Anliegen dieses Buches. Die Bibliographie am Ende der Kapitel beschränkt sich ganz bewusst auf wenige Primär- und Sekundärwerke. Sie dienen der Intensivierung der betreffenden programmatischen Lektüren.
Die Studierenden sollen ermutigt werden, Theorie als eine spannende perspektivische Sichtung kennen zu lernen; angestrebt wird, sie dabei nicht mit der Fülle von Verweisen und Referenzen zu erschlagen. Der vorliegende Band ist als Arbeitsbuch für Anfänger wie für Fortgeschrittene gedacht. Sie sollen vor allem zum Selbstdenken angeregt werden. Diesem Ziel dient auch der Kritik- und Fragenkatalog am Ende jedes Kapitels. Bei der Fertigstellung des Manuskripts kam auch die Frage auf, ob dieser Katalog nicht auch positive Kommentare enthalten solle, also Hinweise, inwiefern, wie und wo die betreffende Theorie Denkanstöße im Bereich der kulturwissenschaftlichen Analyse leistet. Ich bin von einer solchen Idee wieder abgekommen, zum einen, weil die Bedeutung der jeweiligen Konzepte in der Diskussion und Kommentierung einzelner Passagen ohnedies überdeutlich ist und gar nicht in Frage gestellt wird, zum anderen aber auch, weil Kritik und nicht Lob das konstituierende Prinzip von Wissenschaft und gesellschaftspolitischer PraxisPraxis ist. Von daher hätte ein positiver Katalog allenfalls jene rhetorische FunktionFunktion, wie sie von angelsächsischen Tagungen und Konferenzen geläufig ist, wenn nach der Diskussion eines Vortrages nach einer kurzen anerkennenden Bemerkung das unvermeidliche but ertönt. Um dieses Aber, das es den Studierenden erleichtert, sich nicht von theoretischer Größe beeindrucken und in Beschlag nehmen zu lassen, ist es dem Verfasser in dieser Einführung zu tun. Von daher fallen Wertschätzung und Kritik tendenziell in eins. Was Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich unter Berufung auf LessingLessing, Gotthold E. und im Hinblick auf die literarische Kritik gesagt hat, gilt cum grano salis auch für die wissenschaftliche: Kritik soll „mit Zweifeln bewundernd gegen den Meister“ sein,