Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, heißt ‚Kultur‘.15
Eine direkte Bestätigung der Beobachtung EliasElias, Norbert‘ lässt sich in einem der folgenreichsten kulturphilosophischen Werke deutscher Zunge finden, dessen Einfluss sich bei HuntingtonHuntington, Samuel16 ebenso nachweisen lässt wie in der spekulativen Kulturphilosophie eines Peter SloterdijkSloterdijk, Peter.17 Die Rede ist von Oswald SpenglerSpengler, Oswald. In seinem berühmten Werk Der Untergang des Abendlandes spitzt SpenglerSpengler, Oswald, der Schüler GoethesGoethe, Johann W., HerdersHerder, Johann G. (→ Kap. 4) und NietzschesNietzsche, Friedrich, die DifferenzDifferenz von Kultur und ZivilisationZivilisation zu, wenn er Letztere als eine Form kulturellen NiedergangsNiedergang beschreibt:
Der Untergang des Abendlandes […] bedeutet nichts Geringeres als das Problem der ZivilisationZivilisation. […] Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. […] Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist.18
SpenglerSpengler, Oswald schöpft den etymologischen Gegensatz voll aus, indem er an die städtische Assoziation des Wortes „ZivilisationZivilisation“ und an die rurale, bäuerliche Konnotation des Wortes „Kultur“ erinnert. So wird der Gegensatz von innerer BildungBildung vs. äußerer TechnikTechnik, -technik durch jenen von Land und Stadt komplementiert.
Der Begriff Kultur ist also nicht so unschuldig, wie er tut. Dass die Kultur, auf die die gebildeten Deutschen so stolz waren, den „ZivilisationsbruchZivilisationsbruch“ der Shoah nicht verhindern konnte, hat diesen unbeschwerten kulturellen Selbststolz einigermaßen gründlich untergraben. Hinzu kommt, dass der Begriff der ZivilisationZivilisation sehr viel stärker auf den prozessualen Aspekt von Kultur verweist als der deutsche Begriff von Kultur I, der sich wesentlich auf die Produkte und Spitzenleistungen konzentriert. Diese Ähnlichkeit zwischen dem traditionellen Begriff der Zivilisation und modernenModerne, modern, -moderne Kulturkonzepten hat diesen freilich nicht akademisch reputationsfähig gemacht, vermutlich deswegen, weil die Zivilisation sich nicht mit Kultur II und Kultur III umstandslos verbinden lässt. Es gibt keine Pop-Zivilisation und auch keine Weinzivilisation.
Immerhin macht dieser Exkurs eines sinnfällig: dass nämlich beide Begriffe, Kultur und ZivilisationZivilisation, einen höchst normativennormativ Charakter haben. Sie teilen die Menschheit – wenigstens aus der Perspektive jener, die für sich eine besonders ‚hohe‘ Kultur respektive Zivilisation reklamieren – in zwei KlassenKlasse von Menschen: in solche, die Kultur haben, die also kultiviert sind, und in solche, die unkultiviert sind bzw. ‚nur‘ Zivilisation haben. Aber auch der Begriff der Zivilisation wirkt ähnlich diskriminierend, wenn er Zivilisierte und Unzivilisierte als zwei Gruppen von Menschen unterscheidet.
Kultur ist also keineswegs arg- und harmlos, sondern – und das wusste auch schon die Kritische TheorieKritische Theorie – im höchsten Maß konstitutiv für die Etablierung von DiskriminierungDiskriminierung und HerrschaftHerrschaft. Oder um bei der etymologischen Bedeutung des Wortes zu bleiben: Diskriminierung heißt zunächst Unterscheidung, aber diese Unterscheidung impliziert im nächsten Schritt, was wir als Diskriminierung bezeichnen. Kulturen auf allen Ebenen ist es inhärent, dass sie Rangordnungen etablieren. Das hängt damit zusammen, dass es sich bei Kultur um keinen rein deskriptiven oder analytischen, sondern um einen im höchsten Grad normativennormativ Begriff handelt. Wertung und Abwertung des/der AnderenAndere(r), der, die, das bedingen einander. Wer weniger kultiviert ist, der kann nur geringe Ansprüche geltend machen. In Gestalt des Rückständigen, Wilden, Barbaren wird er zum ObjektObjekt der Zivilisierung bzw. Kultivierung. Die Formel von der Bürde des weißen Mannes, die der englische Schriftsteller und Indien-Reisende Rudyard Kipling zum geflügelten Wort gemacht hat, gehört ebenso zu dieser selbstverständlich eingenommenen Herrenpose, wie die Äußerung des damaligen Premierministers Tony Blair vor dem 2. Irakkrieg, man dürfe den Irakern nicht die Errungenschaften modernerModerne, modern, -moderne westlicher DemokratieDemokratie, demokratisch vorenthalten.
Nebenbei bemerkt, haben der KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert und die Kultur indem schon erwähnten lateinischen Wort colere einen gemeinsamen Bezugspunkt.19 Indem also Kultur Abstände markiert, Differenzen setzt, Unterscheidungen trifft, wird Kultur zu einem Phänomen, das gleichsam als ÜberbauÜberbau nicht nur MachtMacht und HerrschaftHerrschaft legitimiert, sondern in das diese darüber hinaus auch eingeschrieben sind. Sie verbinden sich mit anderen Formen von MachtMacht: ökonomischer, sozialer, politischer.
Eine kritische Aufgabe im Bereich von KulturanalyseKulturanalyse und Kulturwissenschaft muss also darin bestehen, diese verstohlenen Formen der MachtMacht in der Kultur ausfindig und transparent zu machen. Insofern die englischen Cultural StudiesCultural Studies – etwa im Bereich der postkolonialenPostkolonialismus, postkolonial Studien (Postcolonial StudiesPostcolonial Studies) – sich selbstkritisch unter Berücksichtigung des historischen Kontexts mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen, in der die narrative MatrixMatrix von FortschrittFortschritt und ZivilisationZivilisation eine zentrale Rolle spielt, ist der umfassende Kulturbegriff (Kultur I) auch in diesem Bereich unverzichtbar und unhintergehbar, wenn auch vornehmlich als kritisch zu hinterfragender, dekonstruierbarer Gegenbegriff; für die eigene Analyse viel entscheidender sind freilich die Weitungen, die der klassische Kulturbegriff in den diversen kulturwissenschaftlichen Ausprägungen erfahren hat. Diese betreffen vor allem die Kultur III, die KunstKunst, Kunstwerk-Kultur und auch jene ubiquitärenubiquitär symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische (Kultur II).
Es ist nicht ganz ohne IronieIronie, dass es ein politisch konservativer Dichter war, der den neo- bzw. postmarxistischen Proponenten der frühen Cultural StudiesCultural Studies und dem Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) die Stichworte geliefert hat: Thomas Stearns EliotEliot, Thomas S. (1882–1965). Als Vertreter des New Criticism stand der einflussreiche Kritiker, Essayist, Dramatiker und Lyriker T.S. EliotEliot, Thomas S. naturgemäß auf der anderen Seite der intellektuellenIntellektueller, intellektuell und akademischen Barrikade. Der Diskursbegründer der modernenModerne, modern, -moderne Kulturtheorie – neben dem Kommunisten Antonio GramsciGramsci, Antonio (→ Kap. 12) – war ein anglikanischer Tory.
EliotEliot, Thomas S. ist außerhalb des anglistischen Milieus nur mehr wenig bekannt, vielleicht am ehesten noch durch sein Drama Mord im Dom (Murder in the Cathedral, 1935), einem Stück, das im Milieu des renouveau catholique der Nachkriegszeit zum Klassiker avancierte. EliotEliot, Thomas S., in CanettisCanetti, Elias nachgelassenen Londoner Erinnerungen als „abgrundschlecht“ verunglimpft,20 war ein doppelter Konvertit: ein Amerikaner, der zu einem konservativenkonservativ Europäer und Engländer mutiert war. Er war eine Schlüsselfigur des literarischen und intellektuellenIntellektueller, intellektuell LebensLeben, Lebens-, -leben seiner Wahlheimat. Das Entstehen seines Buches Notes Towards the Definition of Culture, das so wichtige Theoretiker wie Raymond WilliamsWilliams, Raymond beeinflussen sollte, geht auf drei in deutscher SpracheSprache gehaltene Rundfunkvorträge über die Einheit der europäischen Kultur zurück. Ihr historischer KontextKontext war die Rückbesinnung auf die abendländischAbendland, abendländisch-europäischen Werte nach der Katastrophe des NationalsozialismusNationalsozialismus. Auch im KulturkonservativismusKulturkonservativismus EliotsEliot, Thomas S. schlummert der Gegensatz von Kultur und ZivilisationZivilisation, so etwa wenn EliotEliot, Thomas S., hier in seiner FeindbildlichkeitFeindbild(lichkeit) ganz ähnlich wie SpenglerSpengler, Oswald, im Hinblick auf die moderneModerne, modern, -moderne Motorisierung „von den barbarische[n] Nomaden […] in ihren vollmechanischen Wohnwagen“ spricht.21
EliotEliot, Thomas S. unterscheidet drei Ebenen von ‚Kultur‘:
die Kultur des Einzelnen
die Kultur einer Gruppe
die Kultur einer gesamten GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich
Die Unterscheidung EliotsEliot, Thomas S. ist nicht identisch mit der oben getroffenen. Sie ist eine primär soziologische. Dabei steht die Interdependenz zwischen IndividuumIndividuum, Gruppe und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich im Mittelpunkt. EliotEliot, Thomas S. geht davon aus, dass die jeweils kleinere Kultur von der größeren