Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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einem ‚linken‘ gesellschaftskritischen Impuls verbunden. Sie sehen in der klassischen Moderne eines BeckettBeckett, Samuel oder KafkaKafka, Franz eine Form von bewusster Kultur, die die herrschenden Verhältnisse zwar nicht zum Tanzen bringt, aber doch die Verblendungs- und Verfremdungszusammenhänge aufzeigt und durchschaubar macht. Die Cultural Studies, die zunächst durchaus auf AdornosAdorno, Theodor W. und HorkheimersHorkheimer, Max Analyse der Kulturindustrie zurückgegriffen haben, betonen demgegenüber die progressiven Seiten der modernen Massenkultur (PopularkulturPopularkultur) und würdigen deren innovativeInnovation, innovativ und demokratischeDemokratie, demokratisch Impulse. Seit dem Erscheinen von EliotsEliot, Thomas S. Essay und infolge der kulturellen Veränderungen seit den 1970er Jahren hat sich das Verhältnis von HochkulturHochkultur und Massenkultur dramatisch zugunsten der Letzteren verschoben und es bleibt die Frage, ob diese Demokratisierung der Kultur mitsamt den damit verbundenen Machtverschiebungen nicht am Ende zu Lasten der Qualität der Künste (Kultur III) gegangen ist. Nicht nur schätzen wir heute den emanzipatorischen Impuls der völlig durchkommerzialisierten Popularkultur sehr viel geringer ein als in den frühen 1970er Jahren, vielmehr können wir heute den Preis ermessen, der mit der Marginalisierung ‚elitärer‘ Kultur, wie er nicht zuletzt in der allgemeinen Schulbildung auffällig wird, entrichtet worden ist.

      Es ist erstaunlich, wie weit T.S. EliotEliot, Thomas S. von Raymond WilliamsWilliams, Raymond und Antonio GramsciGramsci, Antonio hinsichtlich des weltanschaulichen Hintergrunds voneinander entfernt und wie nahe sie sich doch zuweilen sind, denn die „Einsicht in den materiellen Charakter kultureller Praxen und deren zentrale Rolle im gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Zusammenhang“32 findet sich – natürlich nicht mit einem marxistischenMarxismus, marxistisch Vokabular – auch bei EliotEliot, Thomas S.. Der Programmatiker der europäischen ModerneModerne, modern, -moderne, der zuweilen auch soziologisch argumentiert, konzediert den Zusammenhang von Kultur und MachtMacht, bewertet ihn aber in umgekehrter affirmativer Richtung, geht er doch im Kontrast zum Egalitarismus marxistischer Provenienz von der Notwendigkeit hierarchischer StrukturenStrukturStruktur, strukturiert, strukturell auch innerhalb demokratischer Kulturen aus, die durch die höhere, bewusste Kultur abgesichert und legitimiert werden.

      Dagegen haben die Cultural StudiesCultural Studies nach WilliamsWilliams, Raymond und GramsciGramsci, Antonio ihr Hauptaugenmerk auf die neuen Popularkulturen des okzidentalen KapitalismusKapital, Kapitalismus, kapitalistisch gesetzt. Die gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Folgen dieses Kulturwandels sind nicht eindeutig: Mittlerweile hat die PopularkulturPopularkultur die bürgerliche Kultur hinsichtlich ökonomischen Einfluss und kultureller HegemonieHegemonie marginalisiert, die subversiven Impulse sind freilich längst durch eine neue Form des Kapitalismus neutralisiert.

      Literatur

      Eliot, T.S., Notes towards the Definition of Culture, London: Faber & Faber 1948.

      Assmann, Aleida, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, 2., neu bearbeitete Auflage, Berlin: Schmidt 2008.

      Bhabha, Homi K., The location of culture, Nachdruck, London: Routledge 2007.

      Därmann, Iris/Jamme, Christoph (Hrsg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München: Fink 2007.

      Eagleton, Terry, Was ist Kultur?, München: C.H. Beck 2002.

      Ette, Othmar, Wirth, Uwe, Nach der Hybridität. Zukünfte einer Kulturtheorie, Berlin: tranvia 2014.

      Groh, Arnold, Theories of culture, London: Routledge 2020.

      Hartman, Geoffrey H., Das beredte Schweigen der Literatur. Über das Unbehagen an der Kultur (aus dem Englischen von Frank Jakubzik), Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.

      Hoppen, Johanna, Lang, Anne-Kathrin, Leggewie, Claus, Siepmann, Marcel, Zifoun, Darius (Hrsg.), Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2012,

      Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard (Hrsg.), Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart: Metzler 2004.

      Jenks, Chris, Culture. Key ideas, London: Routledge 1993. Jenks, Chris, Culture, London: Routledge 2003.

      Kittsteiner, Heinz Dieter (Hrsg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München: Fink 2004.

      Gramsci, Antonio, Literatur und Kultur, herausgegeben von Ingo Lauggas, Berlin: Argument 2012.

      Lauggas, Ingo, Hegemonie, Kunst und Literatur. Ästhetik und Politik bei Gramsci und Williams, Wien: Löcker 2013.

      Müller-Funk, Wolfgang, Die Kultur und ihre Narrative, 2., erweiterte Auflage, Wien/New York: Springer 2008.

      Nünning, Ansgar (Hrsg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart: Metzler 2008.

      Nünning, Ansgar/Nünning, Vera, Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart: Metzler 2008.

      Reckwitz, Andreas, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms; mit einem Nachwort zur Studienausgabe 2006: Aktuelle Tendenzen der Kulturtheorien, 2. Auflage, Weilerswist: Velbrück 2008.

      Roth, Hans Jakob, Kultur, Raum und Zeit. Ansätze zu einer vergleichenden Kulturtheorie Baden-Baden: Nomos 2012.

      Schmidt, Siegfried J., Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist: Velbrück 2000.

      Schmidt, Siegfried J./Sandbothe, Mike, Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, Reinbek: Rowohlt 2003.

      Siegfried J. Schmidt, Kulturbeschreibung – Bescheibungskultur. Umrisse einer prozess-orientierten Kulturtheorie, Weilerswist: Velbrück 2014.

      Williams, Raymond, Culture, 4. Auflage, London: Fontana Press 1989.

      Kapitel 2 Psychoanalyse als Kulturtheorie:

      Sigmund FreudFreud, Sigmund

      Die Frage, ob die PsychoanalysePsychoanalyse in ihren verschiedenen Ausprägungen – FreudFreud, Sigmund, JungJung, Carl G., LacanLacan, Jacques – implizit auch eine Theorie der Kultur darstellt bzw. beinhaltet1, ist nicht leicht zu beantworten. Noch schwieriger gestaltet sich die Frage, welchen Beitrag sie zu einer zeitgemäßen Theorie von Kultur leisten kann und in welchem Verhältnis sie zu heutigen semiotischen Konzepten von Kultur steht.

      Eine pragmatische Antwort lässt sich allemal geben, nämlich die, dass die PsychoanalysePsychoanalyse in all ihren Varianten in den westlichen Kulturen Europas, Amerikas und Australiens präsent ist, übrigens am wenigsten im psychologischen Fachdiskurs, dem sie ursprünglich entsprang, doch dafür in der Philosophie und allen Human- und Kulturwissenschaften. Sie ist bis heute tonangebend; Begriffe, die ihr entstammten, sind, ihres ursprünglichen Kontextes beraubt, selbstverständlicher Teil der DiskurseDiskurs des AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags-, der MedienMedien, Medien-, -medien, medien- und der PolitikPolitik geworden: Verdrängung, Projektion, Narzissmus, Verarbeitung, Trauerarbeit, Übertragung. Es wäre lohnend, im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Studie den Prozess dieser Verankerung zu untersuchen. EliotEliot, Thomas S. folgend (→ Kap. 1), ließe sich behaupten, dass die PsychoanalysePsychoanalyse eine Zivilreligion des Alltags geworden ist und dass sie den einen Prozess durchlaufen hat, den man als Produktion von UnbewusstheitUnbewusste, das, Unbewusstheit bezeichnen könnte. Wir verwenden den Diskurs der PsychoanalysePsychoanalyse so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr wissen, woher all diese zentralen Begriffe stammen. Autoren wie FreudFreud, Sigmund, JungJung, Carl G. und LacanLacan, Jacques haben großen Einfluss auf Denker ausgeübt, die man ohne Umschweife als Kulturtheoretiker wird bezeichnen können: die archetypischen WunschbilderWunschbild BenjaminsBenjamin, Walter (→ Kap. 6) und BlochsBloch, Ernst, sozusagen die imaginären Überschüsse der jeweiligen Kultur2, die Diskurse über die Alterität und den Blick des AnderenAndere(r), der, die, das3, die Kulturkritik der Frankfurter SchuleFrankfurter Schule (→ Kap. 6), sie alle sind kaum denkbar ohne die Leihgaben, die sie jeweils von C.G. JungJung, Carl G., LacanLacan, Jacques oder FreudFreud, Sigmund bezogen.

      Mit


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