Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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Sigmund Kulturtheorie mitnichten. FreudFreud, Sigmund hat seine Schrift mit einem Umweg begonnen. Nachdem er eine erste Bestimmung der Kultur als eines existenziellen Hilfsprogramms vorgestellt hat, forciert er zunächst nicht seine theoretischen Bemühungen um einen stringenten Begriff von Kultur, sondern wählt abermals einen Umweg. Anstatt direkt auf sein Ziel, die Entfaltung einer psychoanalytischen Theorie von Kultur, zuzusteuern, wendet er sich der Frage zu, warum es in der modernenModerne, modern, -moderne Welt eine anhaltende Feindschaft gegen die Kultur gibt: Unbehagen an der Kultur in der Kultur. FreudFreud, Sigmund diskutiert das Thema der Kultur nunmehr nicht primär aus eigener Perspektive, sondern aus der Fremdperspektive, aus dem Blickwinkel der Kritiker. Dabei wird schnell deutlich, dass es sich nicht um ‚Kultur‘ schlechthin handelt, sondern um die okzidentale Kultur. Diese Kritik hat – kulturgeschichtlich besehen – einen unverkennbar deutschen Einschlag. Dieser kulturkritische DiskursDiskurs reicht von einer intensiven Rousseau-Rezeption, über HerderHerder, Johann G. und die RomantikRomantik bis in die Gegenwart FreudsFreud, Sigmund: LebensreformbewegungLeben, Lebens-, -leben, Oswald SpenglersSpengler, Oswald und Ludwig KlagesKlages¸ Ludwig‘ Abgesänge auf die westlich-abendländischeAbendland, abendländisch Kultur. Diese Kulturkritik erlangt schon vor dem Ersten Weltkrieg eine gewisse kulturelle HegemonieHegemonie oder – um mit FoucaultFoucault, Michel zu sprechen – Diskursmacht, sie wird tonangebend und setzt – links wie rechts – revolutionäre meta-politische Suchbewegungen in Gang, in denen sich Konzepte von kultureller und gesellschaftspolitischer Revolution überkreuzen. Mit Diskursmacht (→ Kap. 8; Hegemonie → Kap. 12) ist nun nicht gemeint, dass eine ganze Epoche mit dieser radikalen Kulturkritik einverstanden ist, sondern vielmehr der Umstand benannt, dass sie so sprachmächtig und auch – im doppelten Sinn des Wortes – sprachgewaltig ist, dass man sich mit ihr auseinandersetzen muss. Selbstredend gibt es in diesem Zusammenhang im psychoanalytischen Lager solche radikalen Bestrebungen, Wilhelm ReichReich, Wilhelm und die Sexpol-Bewegung der 1920er Jahre sind die bekanntesten Beispiele für diesen anti-ödipalen Effekt.

      So besehen, liegt es nahe, sich mit dieser Kulturkritik eingehend auseinanderzusetzen. Symptomatisch ist jedoch wiederum die Art und Weise, wie FreudFreud, Sigmund das tut. Er widerlegt diese Kritik nicht etwa theoretisch, sondern fasst ihre Pointe im Sinne einer Diagnose zusammen:

      Die Behauptung […] lautet, einen großen Teil der Schuld an unserem Elend trage unsere sogenannte Kultur; wir wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden. Ich heiße sie erstaunlich, weil – wie immer man den Begriff Kultur bestimmen mag – es doch feststeht, dass alles, womit wir uns gegen die Bedrohungen aus den Quellen des Leidens zu schützen versuchen, eben der nämlichen Kultur zugehört.30

      FreudFreud, Sigmund operiert auch weiterhin nicht als theoretischer Opponent, sondern als Kulturhistoriker, der diese erstaunliche Feindschaft gegenüber der Kultur historisch verortet:

       Die asketische Revolte: „Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen“.

       Die kulturalistisch-anarchistische Revolte: die Idee des edlen Wilden im Gefolge der Kulturbegegnung mit der Neuen Welt.

       Die psychoanalytische Revolte in der ModerneModerne, modern, -moderne: „Man fand, dass der Mensch neurotisch wird […].“31

      Die erste Revolte, die sich gegen das Realitätsprinzip und gegen den Kompromiss wendet, wie ihn Kultur generell darstellt, hat unzweifelhaft asketischen Charakter. Die zweite Revolte lässt undurchschaute (illusionäre) Wunsch- und Gegenwelten entstehen, während die dritte sich im IndividuumIndividuum selbst vollzieht, als ein Protest der Libido gegen die Hilfskonstruktionen der Kultur, ein Protest, der individuellindividuell wie kollektiv neurotische Störungen hervorruft.

      Auch wenn FreudFreud, Sigmund diese Revolte nicht teilt – das gilt insbesondere für die ersten beiden Versionen –, nimmt er dieses Unbehagen ernst. Er greift es als einen Befund auf, der durch kein Gegenargument aus der Welt geschaffen werden kann. Insbesondere das zeitgenössische Unbehagen an der Kultur sieht er im Zusammenhang mit einer nachvollziehbaren und verständlichen Enttäuschung darüber, dass die moralische und gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Entwicklung mit dem technischen FortschrittFortschritt nicht Schritt hält.

      FreudsFreud, Sigmund Begriff von Kultur, der NaturNatur und Kultur, Primitivität und Sublimierung kontrastiert, ist traditionell und eurozentrischEurozentrismus, eurozentrisch; er konstituiert sich durch binäre Oppositionen. Er ist umfassend und schließt den Bereich der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich mit ein. FreudFreud, Sigmund bezieht sich nicht auf den mit BildungBildung aufgeladenen Kulturbegriff, wie ihn IdealismusIdealismus (philosophisch), KlassikKlassik und RomantikRomantik in Deutschland mit jeweils unterschiedlicher Färbung programmatisch aufgefasst haben. Die fast absolute Positivität eines solchen Begriffs von Kultur rührt daher, dass diese als der Ermöglichungsgrund der freien Persönlichkeit gesehen wird. Demgegenüber bezieht sich FreudsFreud, Sigmund nüchterne Auffassung von Kultur, die diese als kollektive Selbsteinschränkung begreift, sehr viel mehr auf den Zivilisationsbegriff angelsächsischer Provenienz, wie die folgende Definition von Kultur sinnfällig macht:

      ‚Kultur‘ bezeichnet „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser LebenLeben, Lebens-, -leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die NaturNatur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“32

      FreudFreud, Sigmund operiert also, wie beinahe alle älteren Konzepte von Kultur, mit einem umfassenden Begriff: Kultur = ZivilisationZivilisation + GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich + KunstKunst, Kunstwerk. Neu und folgenreich ist der Einschluss der inneren psychischen Konditionierung des Menschen durch Kultur. Noch BourdieusBourdieu, Pierre Kulturtheorie (→ Kap. 9) verdankt dieser Einsicht in den Zwangs- und Disziplinierungscharakter von Kultur unendlich viel.

      Dass sich FreudsFreud, Sigmund Verständnis von Kultur nicht auf den emphatisch-idealistischen Begriff von Kultur stützt, sondern auf englische und französische Vorbilder, zeigen auch die literarischen Referenzen: Jonathan SwiftsSwift, Jonathan Gullivers Reisen (1726) und François RabelaisRabelais, François‘ Gargantua und Pantagruel (1558). Die Protagonisten dieser Romane sind Repräsentanten einer ungehemmten Libido. Kein Zufall, dass FreudFreud, Sigmund sich auf jene Episode aus Gullivers Reisen bezieht, wo Gulliver als Riese mit seinem ungebremsten Urinstrahl die Feuersbrunst im Palast seiner winzigen Gastgeber löscht. Zwar rettet Gulliver durch seine Tat den Palast, aber sein Tun bleibt anstößig. Was an diesem Triumph der Libido Anstoß nimmt, ist die ZivilisationZivilisation.33

      Wenn Kultur also nicht so sehr den Freiraum von persönlicher Freiheit, sondern sehr viel eher den RaumRaum ihrer Beschränkung darstellt, dann werden die wiederum kulturellen und psychologischen Motive dieser Feindschaft zumindest nachvollziehbar. FreudFreud, Sigmund benennt insgesamt drei Ursachen:

       Kultur bedeutet Verzicht auf Glücksmaximierung (wie sie durch literarische Figuren wie Pantagruel und Gulliver sinnfällig wird).

       Kultur bedeutet Beschneidung der individuellenindividuell Freiheit.

       Kultur bedeutet HerrschaftHerrschaft und Beherrschung.

      Wir kommen damit zur zweiten Zwischenbilanz unserer Neulektüre (reécriture) von FreudsFreud, Sigmund durch und durch ambivalenter Schrift. Schien es auf den ersten Blick so, dass die KonstruktionenKonstrukt, Konstruktion der Kultur tragfähig sind, so macht der Verweis auf das Unbehagen in der Kultur in Gestalt periodisch wiederkehrender Kulturkritik deren Fragilität sichtbar. Es handelt sich im Falle kultureller Erscheinungen um Provisorien, eben um Hilfskonstruktionen. Diese sind zwar unabdingbar zur Überbrückung des tragischen Grundkonflikts, der aller Kulturbildung zugrunde liegt, aber sie bürden dem Menschen zu viele Verzichtsleistungen auf, die ihm unzumutbar erscheinen. Die PsychoanalysePsychoanalyse etabliert sich als Kulturtheorie, indem sie dieses Unbehagen nicht widerlegt sondern analysiert, und dabei auch ihre neurotischen Symptome ins Blickfeld rückt. In dieser Version wird die andere Seite unserer ZivilisationZivilisation sichtbar, die Gegenstand einer Kulturkritik ist, die ohne utopischen Ausweg auskommt (vgl. die Analysen in den frühen Arbeiten Michel FoucaultsFoucault, Michel → Kap. 8).

      Der


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