Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
technischen (Werkzeuge, Wohnstätten, Zähmung des Feuers),
einen auf den Menschen bezogenen (Vervollkommnung der menschlichen Organe).
Der Mensch wird zum sich selbst bezähmenden Prothesengott. Die Kulturkritik lässt sich auch so formulieren, „dass der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“34
Kultur bedeutet auf den Ebenen I (Kultur als Insgesamt) und II (Kultur als LebensformLeben, Lebens-, -leben):
Herstellung von OrdnungOrdnung, ordnungs- (Regelmäßigkeit),
Herstellung von Reinlichkeit (Hygiene),
Herstellung von Schönheit.
Damit gehen das Entstehen der Künste, die Organisation des Politischen und die Konditionierung der Menschen (etwa in Familie und SchuleSchule) einher:
Pflege von künstlerischen und intellektuellenIntellektueller, intellektuell Leistungen (Kultur III),
Regelung von sozialen Beziehungen (Schaffung von Gemeinschaft),
Einschränkung von Freiheit und Individualismus,
Bearbeitung des Menschen.
Den nachhaltigen Eingriffen in das InnenlebenLeben, Lebens-, -leben der Menschen steht ein Zugewinn an Sicherheit gegenüber, der sekundäre Möglichkeiten eröffnet. Kultur bedeutet ein System von Selbst- und Fremdregulation, von (Selbst-)Beherrschung und HerrschaftHerrschaft. Wenn FreudsFreud, Sigmund Theorie der Kultur als ambivalent bezeichnet wurde, dann wegen ihres unbestechlichen Sinns für eine Unentschiedenheit, die weniger der Person des Autors und seinem Temperament geschuldet ist, sondern vielmehr im untersuchten Phänomen selbst ihren tieferen Grund hat. Es geht nicht um die Abwägung der positiven und der negativen Seiten, sondern darum, dass beide untrennbar miteinander verbunden sind. Von FreudsFreud, Sigmund Schrift aus lässt sich Norbert EliasElias, Norbert‘ an Max WeberWeber, Max geschulte positive ErzählungErzählung(en) der neuzeitlichen ZivilisationZivilisation ebenso nachvollziehen wie Michel FoucaultsFoucault, Michel durch und durch polemische Interpretation (→ Kap. 8).
In seiner Kulturtheorie unterscheidet FreudFreud, Sigmund Formen der Niederhaltung des individuellenindividuell Begehrens:
Umformung, Kanalisierung, Transformation (z.B. der frühkindlichen Analerotik in soziale Tugenden wie Sparsamkeit, OrdnungssinnOrdnung, ordnungs- und Reinlichkeit),
Verschiebung (Triebsublimierung durch Wissenschaft, KunstKunst, Kunstwerk und IdeologienIdeologie),
Triebverzicht, direkte Repression (Unterdrückung und Verdrängung).
Diese Formen der Konditionierung des IndividuumsIndividuum sind unabdingbar für die Produktion der für Kultur konstitutiven Momente: die Umformung für die Herstellung von Hygiene und OrdnungOrdnung, ordnungs-, die Verschiebung und Sublimierung für die Erzeugung des Schönen, die Unterdrückung für die Durchsetzung von Ordnung.
Spätestens an dieser Stelle wird die doppelte Position der PsychoanalysePsychoanalyse deutlich: Sie fungiert im Text als eine exemplarisch vorgeführte Kulturtheorie, aber sie ist zugleich auch ein SymptomSymptom, symptomatisch des Unbehagens an einer Form von Unterdrückung, die die Menschen neurotisch macht. Insofern ist die PsychoanalysePsychoanalyse als Kulturtheorie ein Bestandteil jener, die sie durch ihre radikale Diagnose selbst verändert. Der Sprecher des folgenden Satzes unterscheidet sich deshalb durchaus von dem vorsichtig-skeptisch abwägenden, dem wir über weite Teile des Textes begegnet sind. Über die Kultur seiner ZeitZeit, die HomosexualitätHomosexualität, homosexuell, vorehelichen und außergenitalen GeschlechtsverkehrGeschlecht (Gender), Geschlecht-, ächtet bzw. strafrechtlich verfolgt, urteilt der Text unmissverständlich:
Dabei benimmt sich die Kultur gegen die SexualitätSexualität wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.35
Kultur ist im Hinblick auf die SexualitätSexualität des Menschen herrschaftsförmig: Der Zusammenhang, den FreudFreud, Sigmund herstellt, ist höchst aufschlussreich, vergleicht FreudFreud, Sigmund doch hier die Unterdrückung der Sexualität einerseits mit der Klassenherrschaft und andererseits mit der kolonialen Unterdrückung. Das ist mit Blick auf die Entstehungszeit der Schrift nicht weiter verwunderlich. FreudFreud, Sigmund ist Zeuge heftigster Klassenauseinandersetzungen und Massenaufmärsche. Zugleich aber ist die Welt anno 1929/30 noch vollständig von der englischen und französischen Kolonialherrschaft bestimmt.
Aber dieser Vergleich hat eine weitere Konnotation, die FreudFreud, Sigmund womöglich entgangen sein dürfte. Im interkulturellenInterkulturalität, interkulturell Konflikt und in der kollektiven Phantasie anderer ‚primitiver‘ Kulturen, die man zu ihrem eigenen Vorteil unterdrückt, spielt SexualitätSexualität eine enorme Rolle: Die eigene Kultur wird als zivilisiert empfunden, weil sie Sexualität dadurch zu beherrschen trachtet, dass sich das einzelne Mitglied der Kultur selbst beherrscht. Diese Selbstbeherrschung gilt als Ausweis von Zivilisiertheit, die gegenüber den anderen kolonialisiertenKolonialismus, kolonialisiert Kulturen hervorgehoben wird und die einen normativennormativ Abstand setzt. Diejenigen, die sich und ihre Sexualität nicht beherrschen können, sind nach dieser Selbstinterpretation der ‚höheren‘ Kultur mit Fug und Recht beherrschte Subjekte, eben weil sie sich selbst nicht beherrschen können. Im traditionellen Narrativ von ZivilisationZivilisation und FortschrittFortschritt (→ Kap. 13) spielt der Stolz auf die offiziell demonstrierte (de facto freilich nie durchgehaltene und durchhaltbare) Sexualbeherrschung eine prominente Rolle.
Die andere Kultur wird vornehmlich, abschätzig oder lüstern, als eine solche – positiv wie negativ – imaginiert, die die SexualitätSexualität nicht unter Kontrolle hält und die weniger rational und zivilisiert ist. Während der Mann der primitiven Kultur als sexuellSexuelle, das, sexuell übermächtig imaginiert wird, gilt die fremde wilde Frau als Ausbund der Sinnlichkeit, was sie von der sexuellen Keuschheit der ‚eigenen‘ Frauen abhebt. Solche DiskriminierungenDiskriminierung im doppelten Sinn des Wortes beziehen sich nicht nur auf die außereuropäischen, sondern auch auf die innereuropäischen Kulturen z.B. im slawischen RaumRaum.36 FreudsFreud, Sigmund Haltung gegenüber der Kultur und der Kulturkritik ist ambivalent. Während er die Kultur, eben jenes Unbehagen in der Kultur neutral und distanziert beschrieb, konstatiert er nunmehr – im Gestus des Therapeuten: „Das SexuallebenLeben, Lebens-, -leben der Kulturmenschen […] ist schwer geschädigt[.]“37 FreudFreud, Sigmund benennt die charakteristischen Gebote des Sexuallebens in seiner Epoche:
Verbot des Inzests,
geregelte Partnerwahl, Verbot und Einschränkung der Promiskuität,
Verpönung der kindlichen SexualitätSexualität,
Tabuisierung der HomosexualitätHomosexualität, homosexuell,
Verpönung der außergenitalen Befriedigung,
Monogamie,
Fokussierung der SexualitätSexualität auf die Reproduktion.
FreudFreud, Sigmund erwähnt hingegen nicht – und das ist einigermaßen erstaunlich und vom FeminismusFeminismus der 1970er Jahre zu Recht kritisiert worden – die Unterdrückung der Frau und ihre Verbannung aus der ‚Kultur‘. Das hat womöglich damit zu tun, dass in FreudsFreud, Sigmund Kulturtheorie nicht nur der avancierte psychoanalytische Diagnostiker, sondern auch der Zeitgenosse mit seinen typischen MentalitätenMentalität(en) und Habitualisierungen zu Wort kommt.
Das zeigt sich nicht zuletzt an seinem BildBild der Familie, die das private Spiegelbild der Kultur darstellt. FreudFreud, Sigmund begreift sie – wie die Kultur selbst – als ein Kompromissprodukt, eine Hilfskonstruktion aus Eros und ananke.
Auf der Ebene der Familie reproduziert und wiederholt sich der krasse Gegensatz, den FreudFreud, Sigmund schon zuvor ganz generell festgemacht hat, jener zwischen dem libidinösen Ich und einer ihm feindlichen Realität, die sich nicht ohne Strafe ignorieren lässt.