Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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die bis dahin mehr oder weniger sprachlos waren4 und die im Näheren wie im Weiteren um die menschliche – männliche, weibliche – SexualitätSexualität kreisen. Von ihrem Ausgangspunkt ist die PsychoanalysePsychoanalyse, übrigens auch jene LacansLacan, Jacques, die diese mit dem StrukturalismusStrukturalismus versöhnte (indem sie das UnbewussteUnbewusste, das, Unbewusstheit als eine Art SpracheSprache ansah)5, keine Kulturtheorie sui generis. Denn dieses Unbewusste wird nicht als historisch, d.h. kulturell veränderlich gedacht; FreudsFreud, Sigmund Triebtheorie hat alle Züge einer metahistorischen und metakulturellen Anthropologie. Es gibt bei dem Begründer der PsychoanalysePsychoanalyse keinerlei Hinweis darauf, dass Libido und Aggressionstrieb kulturellem Wandel unterliegen. Der Mensch, dem die PsychoanalysePsychoanalyse in seinen heimlichsten Neigungen auflauert und dessen Obsessionen sie durch die Geschwätzigkeit des TraumesTraum, Traum-, -traum und des Dialogs ans Tageslicht zerrt, gehört ganz und gar – wenigstens in der klassischen Selbstdeutung der PsychoanalysePsychoanalyse – auf die Seite der NaturNatur.

      Insofern ist insbesondere das Denken FreudsFreud, Sigmund ganz dem traditionellen Gegensatz von NaturNatur und Kultur verpflichtet, wobei die Natur die feindliche Außenwelt wie die übermächtige Binnenwelt der menschlichen Triebe – die MetapherMetapher selbst hat biologische Konnotationen – meint. Der Psychoanalytiker, ein HybridHybrid, Hybridität aus zeitgenössischem Naturwissenschaftler und spekulativem Philosophen, ist und wird auf Schritt und Tritt mit kulturellen Phänomenen konfrontiert. Natürlich spielt auch – etwa in Totem und Tabu6 – der Ehrgeiz hinein, die neue Disziplin vermochte auch andere Bereiche zu erhellen, die nicht unmittelbar Gegenstand des psychoanalytischen Diskurses sind. Phänomene wie MassenMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-, die ReligionReligion, religiös oder auch die Kritik an der eigenen Kultur sind Themenkomplexe, die für die PsychoanalysePsychoanalyse eine Herausforderung darstellen. In einem Analogieschluss wird nicht mehr der einzelne Mensch, sondern die westlich-abendländischeAbendland, abendländisch Menschheit und damit die Kultur in ihrem umfassenden Sinn (Kultur I → Kap. 1) zum Gegenstand von Beobachtung, Diagnose und – verfänglich genug – der Therapie. Dieser vom Einzelnen auf die GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich übertragene Anspruch der Heilung hat der PsychoanalysePsychoanalyse allgemeine Beachtung, aber auch Kritik und Skepsis eingetragen.

      Mit dieser Vorbemerkung befinden wir uns bereits mitten in jenem Text, der für die Profilierung der PsychoanalysePsychoanalyse als Kulturtheorie zentral geblieben ist, der Schrift Das Unbehagen in der Kultur, die erstmals 1930 erschien und insgesamt zu den wichtigsten und wirkungsmächtigsten Werken FreudsFreud, Sigmund zählt.7

      Dieser Text, der heute in seinen definitorischen Bestimmungen von ‚Kultur‘ auf den ersten Blick traditionell anmuten mag, ist speziell im kulturwissenschaftlichen DiskursDiskurs, nicht zuletzt unter dem Einfluss des PoststrukturalismusPoststrukturalismus, eher unterbelichtet geblieben, während kleinere Texte wie jener über den Wunderblock und vor allem jener über das Unheimliche8 sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen. Das Neue, das in ihm zutagetritt, findet sich dabei scheinbar am Rande.

      Wie jeder geniale Titel enthält auch jener der Schrift von 1930 bereits die wichtigsten Elemente der Argumentation. Förmlich ins Auge springen dabei wohl drei Elemente: der Terminus des Unbehagens, die befremdliche Präpositionalkonstrukion „in“ sowie der paradoxe Zusammenhang zwischen Unbehagen und Kultur.

      Das Unbehagen, das mit der Vorsilbe „Un-“ die Behaglichkeit negiert, bildet eine konnotative Familie mit Ausdrücken wie ungemütlich, unkomfortabel, unheimisch, unvertraut und – um ein Wort aus einem anderen berühmten Aufsatz von FreudFreud, Sigmund zu zitieren – unheimlich.9 Was durch all diese Worte negiert wird, ist ein Grad von Selbstverständlichkeit: Gemütlichkeit, Behaglichkeit, Heimat. Das Unbehagen, um das es zu gehen scheint, ist also nicht bloß eine intellektuelleIntellektueller, intellektuell Unzufriedenheit, sondern eine tief im Menschen verankerte Disposition, eine innere Verstimmung.

      Das wird nicht zuletzt an der außergewöhnlichen Präpositionalkonstruktion „in“ deutlich, die nicht einfach an die Stelle jener geläufigen anderen („an“) tritt. Das Substantiv „Unbehagen“ verlangt üblicherweise ein präpositionales ObjektObjekt, gleichsam ein Attribut. Dieses bleibt im Titel ausgespart, d.h. es fehlt. Das Unbehagen hat gleichsam sein Objekt verloren und man könnte mutmaßen, dass gerade darin das Ungemütliche besteht. Die Präposition „in“ ersetzt die fehlende („an“) nicht, die im KontextKontext mit dem Unbehagen keine wirklich räumlich-lokale, sondern eine metaphorische Bedeutung hat. Demgegenüber verortet die Präposition „in“ das Unbehagen schlechthin. Der Ort dieses Unbehagens ist die Kultur.

      Über diesen Umweg kann man schließen, dass dieses Unbehagen, das in der Kultur ist, womöglich auch eines an der Kultur ist.

      Kommen wir nun zum dritten Aspekt des Titels: der Gegenüberstellung von Unbehagen und Kultur. Der traditionelle Kulturbegriff legt – übrigens auf allen drei Bedeutungsebenen (Kultur I, II, III → Kap. 1) – die Vorstellung nahe, dass Kultur etwas ist, das Sinn stiftet, sekundäre Heimat schafft, kurzum Behagen produziert. Aber, so suggeriert die Überschrift, das Gegenteil scheint der Fall zu sein.

      Oder, um die Pointe vorwegzunehmen: Das, was intentional Behagen erzeugt, schafft paradoxerweise gerade dadurch und zugleich Unbehagen. FreudsFreud, Sigmund mit allen rhetorischen Wassern gewaschener Text10 beginnt aber nun keineswegs mit der Erörterung dieser Frage, sondern betritt sein Thema auf einem Seitenweg. Gegenstand der vorangegangen Abhandlung Die Zukunft einer Illusion (1927) war das Thema ReligionReligion, religiös gewesen. Aus ihr hatte sich eine kontroverse Korrespondenz zwischen dem französischen Schriftsteller Romain RollandRolland, Romain und FreudFreud, Sigmund ergeben. RollandRolland, Romain hatte darauf verwiesen, dass Religion keineswegs bloß eine menschliche Illusion darstelle, sondern auf einer Grunderfahrung, auf einem elementaren „ozeanischen Gefühl“ beruhe, das FreudFreud, Sigmund in seiner Replik mit einem Vers aus Grabbes Drama Hannibal („Ja, aus der Welt werden wir nicht fallen. Wir sind einmal drin.“) kommentiert. Dieses ursprüngliche Einheitserlebnis, das schon in SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich D.E. Reden über die Religion (1799)11 eine zentrale Rolle spielte, wird von FreudFreud, Sigmund rundweg in Abrede gestellt:

      Die Idee, dass der Mensch durch ein unmittelbares, von Anfang an hierauf gerichtetes Gefühl Kunde von seinem Zusammenhang mit der Umwelt erhalten sollte, klingt so fremdartig, fügt sich so übel in das Gewebe unserer Psychologie, dass eine psychoanalytische, d.i. genetische Ableitung eines solchen Gefühls versucht werden darf.12

      Der Einwand des französischen Schriftstellers zwingt zur Selbstpositionierung. Lassen wir einmal dahingestellt, ob das „ozeanische Gefühl“ wirklich schon die Existenz eines Ichs voraussetzt, das „Kunde von seinem Zusammenhang mit der Umwelt“13 hat, oder ob dieses nicht viel eher im Zwischenbereich dessen angesiedelt ist, was FreudFreud, Sigmund mit dem Es und dem Ich bezeichnet. In jedem Fall bezieht FreudFreud, Sigmund systemlogisch, wie er selbst zu Recht feststellt, eine skeptische Gegenposition zur romantischen Annahme ursprünglicher Einheit und authentischen Daseins. Modern an FreudFreud, Sigmund scheint hier, dass er eigentlich von einem nie ganz reparablen Fremd-Sein des Menschen in der Welt ausgeht. Aus FreudsFreud, Sigmund Perspektive kann der Mensch sehr wohl aus der Welt fallen, weil er nie ganz in ihr ist. Gerade weil dies so ist, gewinnt Kultur im Fortgang der Argumentation eine zentrale Rolle.

      FreudFreud, Sigmund steht im Einklang mit den Ideen der Denker und Dichter der Wiener Jahrhundertwende – mit MachMach, Ernst, SchnitzlerSchnitzler, Arthur, HofmannsthalHofmannsthal, Hugo von und MusilMusil, Robert –, wenn er konstatiert, dass das Ich keine ursprüngliche Größe und keine selbständige, gegen alles andere abgegrenzte Instanz darstellt.

      Es verfügt über keine scharfen Grenzen, nach innen wie nach außen. Verliebtheit ist ein exemplarisches Beispiel dafür, wie die Grenzen zwischen Ich und ObjektObjekt verschwimmen. Viel wichtiger aber ist, dass das Ich im Gegensatz zum Es, dem „unbewusstenunbewusst seelischen Wesen“, eine (Kultur-)GeschichteGeschichte hat. In heutigen Worten formuliert, ist das Ich eine kulturelle KonstruktionKonstrukt, Konstruktion, oder, wie es FreudFreud, Sigmund formuliert, ein Scharnier zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Lustprinzip und Realität. Nun kann FreudFreud, Sigmund die Standardversion des psychoanalytischen Narrativs (→ Kap. 13) erzählen: die GeschichteGeschichte


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