Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
It is part of my thesis that the culture of the individual is dependent upon the culture of a group or class, and that the culture of the group or class is dependent upon the culture of the whole society to which that group or class belongs.22
Immerhin nimmt EliotEliot, Thomas S. an, dass es einen mehr oder minder homogenenHomogenität, homogen kulturellen Rahmen gibt, in den die Kultur der Gruppe und, über sie vermittelt, die Kultur des IndividuumsIndividuum eingebunden sind.
Auf der anderen Seite besitzt die Kultur einer Gruppe eine definitive Bedeutung. Das gleiche gilt für die Kultur des IndividuumsIndividuum („the self-cultivation of the individual“)23, die EliotEliot, Thomas S. positiv gegen die sich damals entwickelnde neue MassenkulturMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- abhebt. Diese Massenkultur wird als eine Kulturform gesehen, in der die Selbst-Kultivierung des Einzelnen unterbleibt. In dem bis heute wieder und wieder aufgelegten BuchBuch (als Medium) liefert EliotEliot, Thomas S. mehrere Definitionen von Kultur. Die erste ist normativnormativ und zielt auf die FunktionFunktion der Sinngebung:
Culture may even be described simply as that which makes life worth living. And it is what justifies other peoples and other generations in saying, when they contemplate the remains and the influence of an extinct civilisation, that it was worthwhile for that civilisation to have existed.24
Kultur wird hier als ein normativesnormativ SymbolsystemSymbolsystem gesehen, das der Welt der menschlichen Erfahrungen Sinn verleiht. An diesem Punkt nähert sich EliotEliot, Thomas S. einem modernenModerne, modern, -moderne österreichischen Dichter, nämlich Hermann BrochBroch, Hermann, dem zeitweiligen Weggefährten CanettisCanetti, Elias, der, nicht zuletzt unter dem Einfluss SpenglersSpengler, Oswald, die moderne Welt in seinen Romanen und in seinem essayistischen Werk als Wert- und Sinnvakuum beschreibt.25 Unüberhörbar auch das kulturelle Pathos bei EliotEliot, Thomas S., wenn er einen nachzeitigen Beobachter konstruiert, der beim Anblick der Überreste dieser inzwischen verloschenen Kultur konstatiert, dass die Menschen in dieser nicht umsonst gelebt hätten. Auch hier liegt der Unterschied zwischen ZivilisationZivilisation und Kultur auf der Hand: Kultur ist in DifferenzDifferenz zu „Zivilisation“ sinn- und wertstiftend. Und nur diese Sinngebung ermöglicht symbolische Teilhabe an der Welt.
So betrachtet, liegt es nahe, ReligionReligion, religiös als das Fundament jedweder Kultur anzusehen. ‚Kultur‘ und ‚Religion‘ sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Kultur stellt dabei den materialen, die Religion den ideellen Aspekt dar. EliotEliot, Thomas S. benützt in diesem Zusammenhang den aus dem christlichen Traditionsfundus stammenden Begriff der Inkarnation. Kultur ist Fleisch gewordene Religion.26
Modern an dieser Auffassung ist die Überlegung, dass die MachtMacht der Glaubensanschauungen, IdeologienIdeologie und Weltbilder sich nicht auf den geistesgeschichtlichen Ideenhimmel beschränkt, sondern dass sie in die gelebte Kultur der Menschen eingeht. An dieser Stelle vollzieht EliotEliot, Thomas S. sozusagen eine kulturelle Wende: keine Kultur ohne religiöseReligion, religiös SinnstiftungSinnstiftung, aber keine Religion ohne kulturelle Verankerung im konkreten, körperlichenKörper, körperlich Menschen.
Aus dieser zunächst sehr konventionell anmutenden ersten Definition von Kultur entfaltet T.S. EliotEliot, Thomas S. eine weitere, die insbesondere in der Version von Raymond WilliamsWilliams, Raymond27 berühmt geworden ist, freilich ohne die positive Bezugnahme auf die christliche ReligionReligion, religiös und ohne Polemik gegen die moderneModerne, modern, -moderne MassenkulturMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-. EliotEliot, Thomas S. schreibt in seinem Essay von 1948:
Yet there is an aspect in which we can see a religion as the whole way of life of a people, from birth to the grave, from morning to night and even in sleep, and that way of life is also its culture. And at the same time we must recognise that when this identification is complete, it means in actual societies both an inferior culture and an inferior religion.
Ungeachtet seiner konservativenkonservativ und elitärenElite, elitär Grundhaltung vertritt EliotEliot, Thomas S. – etwa gegen Matthew ArnoldsArnold, Matthew kanonischem Text Culture and Anarchy (1867) – einen geweiteten Begriff von Kultur, der diese nicht auf KunstKunst, Kunstwerk und intellektuelleIntellektueller, intellektuell Betätigung beschränkt. Was EliotEliot, Thomas S. hier sinnfällig macht, ist die Allgegenwärtigkeit des Kulturellen im alltäglichen LebensvollzugLeben, Lebens-, -leben. In diesen LebensvollzugLeben, Lebens-, -leben sind auch die Bereiche des UnbewusstenUnbewusste, das, Unbewusstheit (Schlaf) einbezogen. Diese praktische und implizite, der Selbstwahrnehmung entzogene Kultur bezeichnet er als ‚niedere‘ Kultur (resp. ReligionReligion, religiös). Kultur wird als ModusModus, -modus des LebensLeben, Lebens-, -leben bestimmt, und dieser Modus ist in allen gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Aktivitäten gegenwärtig. In einem zweiten Schritt werden sie denn auch exemplarisch benannt:
It includes all the characteristic activities and interests of a people: Derby Day, Henley Regatta, Cowes, the twelfth of August, a cup final, the dog races, the pin table, the dart board, Wensleydale cheese, boiled cabbage cut into sections, beetroot in vinegar, nineteenth-century Gothic churches and the music of Elgar. The reader can make his own list.28
Die bunte Mischung ist Teil der rhetorischen Absicht, das Offene und HeterogeneHeterogenität, heterogen der Kultur herauszustreichen. Eine Weitung bezieht sich auf einen Bereich, der sich im Nahbereich der Kultur III, der KunstKunst, Kunstwerk-Kultur befindet: den Sport. Dieser ist in der Aufzählung mehrfach vertreten. Daneben wird die (englische) Esskultur bemüht, um sodann beide mit zwei Produkten der HochkulturHochkultur, neugotischen Kirchen und der Musik des englischen Klassikers David Elgar zu konfrontieren. Es ließe sich also sagen, dass EliotEliot, Thomas S. den Kulturbegriff zweifach weitet: indem er den klassischen Kunst-Kulturbegriff um neue populäre Formen und Ereignisse erweitert und indem er Momente jenes mittleren Kulturbegriffs entfaltet, in dem es um die kulturelle Formierung und Formatierung des privaten LebensvollzugsLeben, Lebens-, -leben zur LebenskulturLeben, Lebens-, -leben geht. Kultur, als gelebte „ReligionReligion, religiös“ ereignet sich im Vollzug des AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags-. EliotEliot, Thomas S. ist auch hierin wegweisend, da er darauf aufmerksam macht, dass die „Haltungen“ der Menschen niemal „pur“ und homogenHomogenität, homogen sind, sondern stets Mischformen darstellen.
EliotEliot, Thomas S. hatte eingangs die Kultur auf drei sozialen Ebenen eingeführt. Nun führt er in seinem Essay noch eine weitere Unterscheidung ein, die ganz offenkundig mit seiner Definition der Kultur als „way of life“ zusammenhängt. Er unterscheidet nämlich zwei Manifestationsformen von Kultur:
eine niedere und unbewussteunbewusst Ebene von Kultur
eine höhere und bewusste Ebene von Kultur
In ihrem alltäglichen Vollzug sind Kultur und ReligionReligion, religiös unbewusstunbewusst, das heißt, die Bedeutungen, Werte, die ihren Handlungen zugrunde liegen, sind nicht manifest, sondern latent, das heißt aber auch, sie kommen von ZeitZeit zu Zeit, nur unter ganz bestimmten kulturellen Umständen, zum Vorschein:
[…] people are unconscious of both their culture and their religion. Anyone with even the slightest religious consciousness must be afflicted from time to time by the contrast between his religious faith and his behaviour; anyone with the taste that individual or group cultures confer must be aware of values which he cannot call religious. And both ‚religion‘ and ‚culture‘, besides meaning different things from each other, should mean for the individual and for the group something towards which they strive, not merely something which they possess.29
Im intellektuellenIntellektueller, intellektuell Haushalt des 20. Jahrhunderts ist der Terminus des UnbewusstenUnbewusste, das, Unbewusstheit durch den DiskursDiskurs der PsychoanalysePsychoanalyse bestimmt und besetzt. Aber bei EliotEliot, Thomas S. meint er etwas gänzlich anderes. Das Unbewusste bei FreudFreud, Sigmund ist eine Dimension unseres durch den KörperKörper, körperlich bestimmten Daseins, die uns zwangsläufig entgeht und die sich nur indirekt (durch Symptome) mitteilt. Das Unbewusste ist das, was dem BewusstseinBewusstsein, bewusst unzugänglich bleibt. Natürlich ist das Reden über dieses Unzugängliche – bei FreudFreud, Sigmund wie bei LacanLacan, Jacques – höchst paradox, denn es wird über etwas gesprochen, über das sich eigentlich