Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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GrenzeGrenze. Diese ist durch den gewählten Blickpunkt gegeben, durch das, was man im Bereich der Literaturtheorie als FokalisierungFokalisierung bezeichnet (BalBal, Mieke, Genette). Überhaupt gibt es wohl Grenzen von theoretischen Konzepten, die sich in Paradoxien, Zirkeln und reflektierten Widersprüchen artikulieren. Ein solches Verständnis von Theorie und – damit verbunden – von PluralismusPluralismus, pluralistisch mag insbesondere der deutschen Leserschaft auf den ersten Blick fremdartig anmuten, weil sich darin auch ein gewisser Pragmatismus im Umgang mit dem manifestiert, was im Englischen metaphorisch so unnachahmlich präzise als methodological tools bezeichnet wird. Dies ermöglicht die Einsicht in den Zusammenhang von Produktivität und Beschränktheit von Theorien generell und begreift diese selbst als eine Form von PraxisPraxis. So wird, wie der amerikanische Philosoph John Dewey ausführt, „unsere wirkliche ErkenntnisErkenntnis“ Form eines Handelns, indem unsere jeweiligen epistemischen Optionen auch entsprechende Konsequenzen zeitigen, für die wir Verantwortung tragen.2 Ein solches Selbstverständnis impliziert eine Absage an jedwede Vorstellung einer perfekten, fehlerfreien und im pathetischen Sinn ‚wahren‘ Theorie, ohne in jene Art eines alles relativierenden raisonnements zu verfallen, das nur zur Entmutigung führen kann.

      Besonders wichtig erschien mir die historische Tiefendimension, das heißt die Entwicklungsgeschichte eines bestimmten Theorie-Diskurses: Denn der historische Zugang eröffnet auch ein Verständnis einer Theorie im Sinne einer Orientierung.

      Eine Einführung in die Kulturtheorie ist kein Handbuch, um sich mechanisch Begriffsapparaturen anzueignen, sondern um zu verstehen, wie und warum die betreffenden Theoretiker bzw. Theoretikerinnen auf ihre Begriffe gekommen sind, warum sie diese oder jene Denkform ausgebildet haben.

      Der Band ist so angelegt, dass er das gesamte Spektrum der Diskussion sichtbar werden lässt. Er umfasst – exemplarisch – Theorien, die aus dem deutschsprachigen, dem frankophonen sowie dem angelsächsischen Bereich kommen. So hat T.S. EliotEliot, Thomas S. mit seiner Definition von Kultur ganz unbeabsichtigt die Cultural StudiesCultural Studies beeinflusst, Sigmund FreudFreud, Sigmund wiederum hat Kultur im KontextKontext des UnbewusstenUnbewusste, das, Unbewusstheit geortet und dessen Regulierung analysiert. Unverzichtbar erscheinen aus der Perspektive des Verfassers auch die sehr verschiedenen und zugleich doch komplementären Ansätze von Georg SimmelSimmel, Georg und Ernst CassirerCassirer, Ernst. Während CassirerCassirer, Ernst mit seiner Theorie der symbolischen FormenFormen, symbolischFormen, symbolische die wohl einzige systematische philosophische Begründung von Kulturtheorie vorgelegt hat, ist SimmelSimmel, Georg unter anderem wegen seiner Analyse des GeldesGeld, seines Begriffs des LebensstilsLeben, Lebens-, -leben und seiner Betonung des Relationalen und Funktionalen von zentraler Bedeutung. Ein Rückblick auf Vordenker wie VicoVico, Giambattista und HerderHerder, Johann G. eröffnet nicht nur eine historische Tiefendimension, er lässt auch einige problematische Seiten des KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus zutage treten, die – man denke nur an das BuchBuch (als Medium) von Samuel HuntingtonHuntington, Samuel – bis zum heutigen Tage wirksam sind. Im KontextKontext der Kritischen TheorieKritische Theorie sind die theoretischen Impulse, die von Walter BenjaminBenjamin, Walter ausgegangen sind, im internationalen DiskursDiskurs bis zum heutigen Tage aktuell geblieben.

      Die SemiotikSemiotik von Roland BarthesBarthes, Roland, das Konzept der symbolischen FeldFeld (symbolisches)erFeld (symbolisches von Pierre BourdieuBourdieu, Pierre sowie die Diskursanalyse im Stile FoucaultsFoucault, Michel sind heute unverzichtbares methodologisches Arsenal in der internationalen Debatte über das Großphänomen Kultur. Das gilt ebenso für die Theorie des NarrativenNarrative, die hier durch Paul RicœurRicœur, Paul vertreten ist, sowie für das Konzept der „dichten Beschreibung“, wie es Clifford GeertzGeertz, Clifford in Auseinandersetzung mit dem dominanten ethnologischen Fachdiskurs entwickelt hat. Das MimesisMimesis-Konzept von René GirardGirard, René, das im Spektrum der kulturwissenschaftlichen Debatte vielleicht randständig ist, wurde nicht zuletzt deshalb gewählt, weil es in so mancher Hinsicht Gegenpositionen etwa zu den Cultural StudiesCultural Studies bezieht. Diese sind wiederum durch einen Schlüsseltext von Stuart HallHall, Stuart repräsentiert, in dem der Autor Rechenschaft über das theoretische patchwork der englischen postmarxistischen Theoriebildung ablegt.

      Um diese dreizehn DiskurseDiskurs und ihre Repräsentanten gruppieren sich weitere Theoretikerinnen und Theoretiker, so dass die Studierenden mit weiteren wichtigen Repräsentanten der internationalen Diskussion, unter anderen Mieke BalBal, Mieke, AlthusserAlthusser, Louis, GramsciGramsci, Antonio, SaussureSaussure, Ferdinand de, ButlerButler, Judith, SaidSaid, Edward oder BhabhaBhabha, Homi K. bekannt gemacht werden. Wichtiger als eine oberflächliche Gesamtschau erschienen dem Verfasser der exemplarische Überblick und die vertiefende Lektüre. Die Auswahl mag subjektivSubjektivität, subjektiv sein und die intellektuellenIntellektueller, intellektuell Präferenzen des Verfassers widerspiegeln. Insofern ist es nicht nur eine, sondern seine Einführung. Bei der Wahl der betreffenden Texte haben indes durchaus auch ‚objektiveobjektiv, Objektiv-‘ Kriterien eine wichtige Rolle gespielt, etwa der Stellenwert dieser Theorien in den einschlägigen Diskursen, die Bedeutung des Textes im Hinblick auf die Begründung neuer Fragestellungen und Fokusbildungen. Vor allem aber wurden Konzepte bevorzugt, die für die Anwendung in einem bestimmten Themengebiet geeignet sind.

      Kulturtheorie lehrt uns, aufmerksam mit Differenzen umzugehen, in der KulturanalyseKulturanalyse wie in der politischen PraxisPraxis. Zu den spezifischen Empfindlichkeiten gehört in diesem Fall die Verwendung von Geschlechtermarkierungen. Der Verfasser ist dabei so vorgegangen, dass er häufig neutrale Begriffe bevorzugt hat (Publikum, Leserschaft), ansonsten aber die einschlägigen grammatischen Geschlechtsbezeichnungen verwendet, in die freilich immer beide Geschlechter einbezogen sind. So ist, um einmal umgekehrte Beispiele zu bemühen, die Person oder die Figur sowohl männlich als auch weiblich decodierbar. In allen Fällen, wo die Geschlechterdifferenz von Belang ist, wird sie ausdrücklich markiert.

      Bedanken möchte ich mich bei den Mitgliedern der Arbeitsgruppe des Studienschwerpunktes Kulturwissenschaften/Cultural StudiesCultural Studies an der Universität Wien, bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Mitteleuropa-Forschungsprojekte („Selbst- und Fremdbilder“; „Zentren und Peripherien“), bei den Kolleginnen und Kollegen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Abt. Kulturwissenschaften und Theatergeschichte und namentlich bei Roland Albrecht (Museum der unerhörten DingeDinge, Berlin), Anna Babka, Anil Bhatti, Moritz Csáky, Walter Famler, Heinz Fassmann, Wladimir Fischer, Angelika Fitz, Jiři Grusa, Endre Hárs, Viktorija Hryaban-Widholm, Edit Király, Christina Lutter, Alexandra Miller, Manfred Moser, Andrea Pribersky, Marc Riess, Clemens Ruthner, Ursula Reber, Reinhard Sieder, Peter Stachel, Heidemarie Uhl und Birgit Wagner.

      Ganz herzlichen bedanken möchte ich mich bei Angelika Pfaller für das ausgezeichnete Lektorat und wichtige Anregungen sowie bei Ursula Reber, Anna Müller-Funk und Lea Müller-Funk, die das Manuskript noch einmal durchgegangen sind und mir bei der Formatierung geholfen haben.

      Kapitel 1 Überlegungen zum Kulturbegriff:

      T.S. EliotsEliot, Thomas S. Spuren in den angelsächsischen Kulturwissenschaften

      Die kulturelle Wende (cultural turn) in den Human- und Geisteswissenschaften hat neue Perspektiven und Forschungsfelder eröffnet, zugleich aber eine nachhaltige Verunsicherung erzeugt, die ganz offenkundig mit der begrifflichen Unschärfe von Termini wie Kulturwissenschaften und Cultural StudiesCultural Studies zusammenhängt. Inhalt, Bandbreite und Methodik dieser neuen Wissenschaftsfelder sind unbestimmt, um nicht zu sagen ausufernd. Das schlägt sich auch in den verschiedenen disziplinären Bezeichnungen nieder: Kulturwissenschaften, KulturanalyseKulturanalyse, Kulturanthropologie, Kulturtheorie, Kulturphilosophie, Kulturgeschichte. Diese Bezeichnungen sind keine Homonyme, sie haben Familienähnlichkeiten im Sinne WittgensteinsWittgenstein, Ludwig, aber es gibt keinen Oberbegriff, der all diese neuen binnen-, trans- und außerdisziplinären Fokussierungen angemessen zu einem Ganzen zusammenzufassen vermöchte.1

      Besonders verschwommen und deshalb auch fortgesetzt ObjektObjekt zünftig-traditioneller Kritik ist der Terminus Kulturwissenschaft, der bekanntlich im Singular wie im Plural gebräuchlich ist. Insbesondere im Singular legt er die Idee einer neuen avancierten Disziplin oder gar Leitdisziplin nahe, während er im Plural zudem noch zwei


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