Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
das auf kindliche, unbändige Weise seine Lust gegen die Außenwelt geltend macht und sich gegen diese und deren Zumutungen abgrenzt.
Das „ozeanische Gefühl“ lässt sich anhand dieser ErzählungErzählung(en) als ein Rückgriff auf eine „frühe Phase des Ichgefühls“14 zurückführen, als Tendenz des erwachsenen Menschen, in diesen vermeintlich idyllischen Zustand zurückzukehren. Das Stichwort lautet Regression. Im Gegensatz zum heute geläufigen Wortgebrauch bezeichnet es eine unvermeidliche Rückbewegung, eine imaginäre Rückkehr zur Kindheit, die FreudFreud, Sigmund hier mit dem Erinnern verbindet. Die Regression ist aber auch ein Regress, eine Entschädigung, ein Ausgleich. Diese Vorstellung von Entschädigung ist zentral für FreudsFreud, Sigmund Konzept von Kultur. FreudFreud, Sigmund wendet diesen ontogenetischen Befund phylogenetisch und archäologisch:
Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach.15
So interpretiert FreudsFreud, Sigmund biologisch-psychologischer MaterialismusMaterialismus das heutige Ich analog als einen evolutionären Restposten: Das heutige Ich verhält sich zu jenem archaischen Ich, das jedes Erdenkind, auch das moderneModerne, modern, -moderne, noch einmal durchläuft, wie die Echsen zu den Dinosauriern oder das gegenwärtige Rom zur antiken Metropole. In Kultur ist also immer ein Moment von Regression und Regress, von Vergessen und Erinnern eingeschrieben. ReligionReligion, religiös wird dabei als eine ReaktionsbildungReaktionsbildung, als ein kultureller Effekt verstanden, somit als integraler Bestandteil von Kultur. Es basiert auf einer ErinnerungErinnerung an ein ‚primitives‘ Ich und stellt eine Rückkehr zu „uralten, längst überlagerten Zuständen des SeelenlebensLeben, Lebens-, -leben“ dar, in ein Dunkel, das FreudFreud, Sigmund mit Verweis auf SchillersSchiller, Friedrich Gedicht Der Taucher16 als monströs und unheimlich apostrophiert.
Kein Zweifel, dass FreudFreud, Sigmund in der Tradition hellenistischer und aufklärerischer Skepsis steht, aber an einer entscheidenden Stelle geht er über sie hinaus, wenn er ReligionReligion, religiös nämlich weniger als ein mentales, sondern vielmehr als ein kulturelles Phänomen deutet, das Teil des LebensvollzugsLeben, Lebens-, -leben ist. In seiner genetischen Argumentationsweise ist die Religion nicht einfach Lug und Trug, sondern vielmehr Teil eines menschlichen Dramas, das sowohl physisch wie kulturell ist. Anders gesagt: Sie ist im Körperlichen verankert. Was Kulturwissenschaften jedweder Provenienz FreudFreud, Sigmund zu verdanken haben, ist die Überwindung von Kulturkonzepten, die den Einfluss und den Ort der Kultur auf den Kopf des Menschen beschränken wollen.
Mit diesem Befund im Rücken kann sich FreudFreud, Sigmund nunmehr seinem eigentlichen Thema, der Kultur, widmen. Bevor er dies tut, räumt er einen zweiten Stein aus dem Weg, nämlich die Frage nach dem Sinn und „Zweck“ des LebensLeben, Lebens-, -leben; er überführt sie in jene nach den Absichten, die der Mensch durch sein praktisches Verhalten ‚erkennen‘ lässt. FreudFreud, Sigmund nimmt gleichsam eine ethnologische und zugleich kriminologische Position ein: Er misstraut den schönen Selbstaussagen, die die Menschen von sich geben. Diese sind Rationalisierungen ihrer wahren Absichten. Letztere möchte die PsychoanalysePsychoanalyse erschließen. Als Kern dieser Rationalisierungen bestimmt FreudFreud, Sigmund das Streben nach Glück:
„Das Prinzip [das Lustprinzip, Anm. d. Verf.] beherrscht die Leistung des seelischen Apparates von Anfang an.“17 Wobei dieses Glück – dem klassischen philosophischen DiskursDiskurs entsprechend – immer zwei Seiten hat: positiv das Erlebnis intensiver Lustgefühle, negativ die Abwesenheit von Schmerz und Unlust. Dieses Streben wiederum ist biologisch-natürlich im Menschen als Programm verankert. Seine stärkste Manifestation erfährt es in der geschlechtlichengeschlechtlich Liebe.
Soweit der Befund einer quasi naturwissenschaftlich unterlegten Kulturanthropologie. Aber diesem ‚natürlichen‘ Streben nach Glück steht – so die tragische Pointe der ErzählungErzählung(en) FreudsFreud, Sigmund von der Genese der Kultur – die Realität entgegen:
Das LebenLeben, Lebens-, -leben wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben.18
Das Programm des Lustprinzips ist
im Hader mit der ganzen Welt […] Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht enthalten.19
Dramatisch effektvoll verweist FreudFreud, Sigmund auf jene Momente, durch die der glücksbegierige Mensch bedroht ist:
durch den eigenen KörperKörper, körperlich, das heißt durch Verfall, Auflösung, Schmerz und Angst;
durch die zerstörerischen Kräfte der Außenwelt (NaturNatur);
durch die Beziehungen zu anderen Menschen und zur GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich;
durch die Kurzfristigkeit des Glücks.
Was tun in dieser vertrackten Situation, die durch permanente Frustration und Überforderung charakterisiert ist? FreudFreud, Sigmund gibt hier eine Antwort, die der Anthropologie Plessners und Gehlens20 beträchtlich nahe kommt, auch wenn diese anders als FreudFreud, Sigmund nicht das Lustgefühl in den Mittelpunkt rücken, sondern von vornherein Entlastung und Kompromiss in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Kulturen, so könnte man sagen, lassen sich als symbolische Hilfsprogramme und Ersatzkonstruktionen des LebensLeben, Lebens-, -leben begreifen, um den Abgrund, der sich zwischen Glücksanspruch und Realität auftut, zu überbrücken. Die Ermäßigung des „Glücksanspruchs“ erscheint aus dieser Perspektive unvermeidlich; lakonisch urteilt FreudFreud, Sigmund, dass „uneingeschränkte Befriedigung“ triebökonomisch nicht optimal sei, weil das hieße, „den Genuss vor die Vorsicht“ zu „setzen“.21 Kultur bedeutet von daher stets Einschränkung des Natürlichen im Menschen und des Naturwesens Mensch selbst.
FreudFreud, Sigmund unterscheidet dabei unter Verweis auf drei Schriftsteller – VoltaireVoltaire, FontaneFontane, Theodor und BuschBusch, Wilhelm – drei verschiedene Hilfskonstruktionen und kulturelle Ablenkungen:
1 Die VoltaireVoltaire’sche, die Geringschätzung des Elends, Arbeit und Wissenschaft impliziert: Am Ende seines Romanes Candide oder der Optimismus (1758) meint einer der Romanprotagonisten: „Arbeiten wir also, ohne viel zu grübeln […], das ist das einzige Mittel, um das LebenLeben, Lebens-, -leben erträglich zu machen.“22
2 Die FontaneFontane, Theodor’sche, die Verringerung des Elends durch die „Hilfskonstruktion“ weise Resignation und durch KunstKunst, Kunstwerk empfiehlt, so wie Geheimrat Wüllersdorf Effi Briests Gatten, dem Baron von Instetten, am Ende von FontanesFontane, Theodor berühmten Roman.23
3 Die BuschBusch, Wilhelm’sche (aus der Frommen Helene), die Unempfindlichkeit gegenüber dem Elend durch die Einnahme von „Likör“ empfiehlt („Wer Sorgen hat, hat auch Likör“).24
Die Bezugnahme auf literarische Texte mit skeptisch-aufklärerischer Tendenz (um die Literatur seiner ZeitZeit macht FreudFreud, Sigmund einen großen Bogen) hat dabei nicht nur illustrative, sondern konstitutive Bedeutung. Die Literatur wird als ein MediumMedium angesehen, das die verschwiegenen Motive in der Psyche des einzelnen Menschen und kulturelle Effekte in plastischer Konkretheit ans Licht befördert. Im Fortlauf des Textes variiert und erweitert FreudFreud, Sigmund diese aus der Literatur bezogene Typologie folgendermaßen:
Geringschätzung des Elendsdurch Abschottung (Eremit)durch zivilisatorisches Engagement
Unempfindlichkeit gegen das Elenddurch äußere Manipulation (Drogen)durch asketische PraktikenPraktiken und Senkung der Libido (Yoga)
Verringerung des Elends (Ersatzbefriedigung)Verschiebung (Wissenschaft)Verfeinerung (KunstKunst, Kunstwerk)
Im Anschluss an die Typologie kultureller Hilfskonstruktionen entfaltet FreudFreud, Sigmund auch eine Typologie des Kulturmenschen, die freilich nicht vollständig mit der obigen Typenreihe übereinstimmt:
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