Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
Formung entzieht. Das Unbewusste hat keine GeschichteGeschichte.
Das UnbewussteUnbewusste, das, Unbewusstheit, wie es EliotEliot, Thomas S. versteht, ist latent Bewusstes, etwas, das eingelernt und (sodann) automatisiert worden ist. Es kann vergessen werden, weil es gleichsam internalisiert worden ist. Das führt uns zu einem erstaunlichen Befund, dass nämlich ein Gutteil dessen, was wir unter ‚Kultur‘ verstehen, gar nicht bewusst und explizit, sondern vielmehr unbewusstunbewusst und implizit ist, unserem alltäglichen BewusstseinBewusstsein, bewusst entgeht. Kultur lässt sich als etwas bestimmen, dass Unbewusstheit produziert.
Das lässt sich an einem Beispiel veranschaulichen. Wir haben alle das Autofahren gelernt. Irgendwann einmal ist uns diese KulturtechnikTechnik, -technik zur Selbstverständlichkeit geworden. Wir denken nicht daran, wie wir unsere Beine zwischen Gaspedal, Kupplung und Bremspedal hin- und herbewegen, wir schalten automatisch oder schauen wie von selbst in den Rückspiegel. Deshalb auch ist es uns möglich, uns mit unseren Beifahrern und Beifahrerinnen zu unterhalten.
Wie gründlich wir vergessen haben, was wir tun, tritt zutage, wenn wir jemandem das Autofahren beibringen wollen und z.B. die Tochter aufgeregt fragt, ob sie erst auf die Kupplung und dann auf die Bremse treten soll, und sich damit präzise nach der korrekten Reihenfolge der Bewegungsabläufe erkundigt.
In dieser erstaunlichen Situation, in der der Lehrende länger darüber nachdenken muss, was er denn eigentlich tut, wenn er Auto fährt, fällt ihm dann auch jenes Phänomen auf, das EliotEliot, Thomas S. als Kontrast zwischen religiösemReligion, religiös GlaubenGlaube und praktischem Verhalten beschrieben hat. Der religiöse Glauben ist hier die Allgemeine Straßenverkehrsordnung, deren Regeln die lernende Tochter sehr viel bewusster wahrnimmt als der fahrtüchtige Vater, der sich anhören muss, wie oft er – ein klein wenig – gegen den Katechismus des modernenModerne, modern, -moderne Straßenverkehrs verstößt. Als Postskript sei angeführt, dass sich Kulturen auch darin unterscheiden, wie sehr sie diese DifferenzDifferenz von formal festgelegtem Katechismus und der informellen OrdnungOrdnung, ordnungs- der DingeDinge akzeptieren oder sanktionieren.
Für die These, dass Kultur in einem weiteren Sinn UnbewusstheitUnbewusste, das, Unbewusstheit erzeugt, lassen sich viele Beispiele anführen, so etwa auch die SpracheSprache. Um einen wohlgeformten Satz im Deutschen zu schreiben, bediene ich mich nicht des Katechismus der Grammatik. Ich habe den Satz, den ich gerade – vor einigen Sekunden – geschrieben habe, nicht damit begonnen, mir zu überlegen, dass ich ihn mit einem infinitivischen Nebensatz mit „um“ beginne, der mich zu einer ganz bestimmten Wortstellung (Akkusativ vor Infinitiv) verpflichtet und der mir fernerhin vorschreibt, in dem sich anschließenden Hauptsatz – entgegen der üblichen Vorschrift – das Verb („bediene“) vor das SubjektSubjekt („ich“) zu stellen. Ich habe auch keine Sekunde daran gedacht, dass das Akkusativ-ObjektObjekt („mich“) dem Genetiv-Objekt vorangestellt worden ist. Mein BewusstseinBewusstsein, bewusst hat auch nicht realisiert, dass das Verb „bedienen“ wie einige andere Verben im Deutschen eines Genetiv-Objekts („des Katechismus“) bedarf. Um Studierenden, die des Deutschen nicht mächtig sind, die grammatikalischen Regeln zu erklären, die zu der Ausformung dieses Satzes geführt haben, bedürfte es nicht weniger Stunden Unterricht.
Die spannende Frage ist nun, wann Kultur aus dem Dornröschenschlaf selbstverständlich vollzogener UnbewusstheitUnbewusste, das, Unbewusstheit erwacht. Die Situation des Lernens, der Weitergabe von KulturtechnikenTechnik, -technik (SchuleSchule, Tradition) wäre eine solche Situation. Damit verwandt, aber doch ganz anders, ist die Situation, wenn ich auf den Vertreter einer Kultur treffe, der weder das Fortbewegungsmittel Auto noch die Allgemeine Straßenverkehrsordnung kennt. Und eine dritte ist denkbar, dann nämlich, wenn sich die Bedingungen der Fortbewegung ändern und Vorschläge für die Änderung des Straßenverkehrs zur Diskussion stehen. Die vielen Kreisverkehre (oder die neuen Rechtschreibregeln), die in den letzten Jahren eingeführt worden sind, besitzen für eine gewisse ZeitZeit noch immer ein Irritationspotenzial.30
Das bewusste Moment in der Kultur ist gewissermaßen die Spitze eines Eisberges, die aus dem Meer des UnbewusstenUnbewusste, das, Unbewusstheit lugt. Aber so klein der Anteil des Bewusstseins auch sein mag, für das Schicksal der jeweiligen Kultur ist die bewusste Ebene von Kultur – etwa in Gestalt von KunstKunst, Kunstwerk, Wissenschaft, MythosMythos, Mythologie, mythologisch und GlaubenGlaube – von zentraler Bedeutung. Denn in diesen „symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische“ (CassirerCassirer, Ernst → Kap. 3) werden die Veränderungen der kulturellen Landkarten durchgesetzt und ausgehandelt. Unter den Bedingungen der ModerneModerne, modern, -moderne werden Kunst und Wissenschaften zu Produzenten kulturellen Wandels. Aber immerhin könnte es auch zutreffen, dass Veränderungen statthaben, die sich in unserer alltäglichen Fahr- und Sprachpraxis vollziehen und die erst viel später dem BewusstseinBewusstsein, bewusst unserer Kultur zugänglich werden.
EliotEliot, Thomas S. projiziert die beiden Aspekte von Kultur auf die soziale Ebene. Die verschiedenen Elemente von Kultur korrespondieren mit dem Gegensatz zwischen MasseMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- und EliteElite, elitär, wobei die eine die Trägerin der bewusstlosen AlltagskulturAlltag, Alltagskultur, Alltags-, die andere jene der bewussten HochkulturHochkultur darstellt. Als Konservativer ist EliotEliot, Thomas S. von der Notwendigkeit einer hierarchisch geordneten GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich und einer entsprechend geordneten Kultur überzeugt. Für ihn steht außer Zweifel, dass es die (christlich-abendländischeAbendland, abendländisch) Hochkultur ist, die ‚lebenswertLeben, Lebens-, -leben‘ ist.
What is important is a structure of society in which there will be, from ‚top‘ to ‚bottom‘, a continuous gradation of cultural levels: it is important to remember that we should not consider the upper levels as possessing more culture than the lower, but representing a more conscious culture and a greater specialisation of culture. The levels of culture may also be seen as levels of powers, to the extent that a smaller group at a higher level will have equal power with a larger group at a lower level; for it may be argued that complete equality means universal irresponsibility; and in such a society as I envisage, each individual would inherit greater or less responsibility towards the commonwealth, according to the position in society which he inherited – each class would have somewhat different responsibilities.
A democracy in which everybody had an equal responsibility in everything would be oppressive for the conscientious and licentious for the rest.31
In EliotsEliot, Thomas S. Argumentation dient Kultur der Legitimation von HierarchieHierarchie und HerrschaftHerrschaft. Weil es in nationalenNation, Nationalismus, national Binnenkulturen nämlich verschiedene Ebenen von Kultur gibt und geben muss, existieren auch verschiedene soziale RepräsentationenRepräsentation, die diese kulturellen Abstufungen widerspiegeln. Kulturelle und soziale Ungleichheit bedingen einander. Immerhin ist EliotEliot, Thomas S. insofern kein Kultur-‚Romantiker‘, als er den Zusammenhang zwischen Kultur und MachtMacht unumwunden zugibt. Eine kleine Gruppe, die eine höhere Ebene von Kultur repräsentiert, verfügt über dieselbe MachtMacht wie eine große Gruppe auf einer niedrigeren Ebene. EliotsEliot, Thomas S. Konzept von DemokratieDemokratie, demokratisch enthält einen kulturaristokratischen Akzent. Es ist die EliteElite, elitär, die Trägerin auch der bewussten Kultur, die Verantwortung trägt. Demokratie bedarf der Elite, der Menschen, die Verantwortung übernehmen. Das ist wohl auch der Grund, warum viele, gerade jüngere Menschen die ’HochkulturHochkultur‘ ignorieren und verachten.
Der höhere Grad von BewusstseinBewusstsein, bewusst, die HochkulturHochkultur und ein Mehr an MachtMacht und Verantwortung bedingen sich bei EliotEliot, Thomas S. wechselseitig. An diesem OrdnungsidealOrdnung, ordnungs- einer hierarchisch geschichteten GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich gemessen, müssen die nivellierenden Tendenzen modernerModerne, modern, -moderne MassenkulturMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- zwangsläufig als negativ und als SymptomSymptom, symptomatisch für kulturellen NiedergangNiedergang gedeutet werden.
Es ist vielleicht abschließend interessant, EliotsEliot, Thomas S. Konzept mit jenem der Frankfurter SchuleFrankfurter Schule einerseits und der Cultural StudiesCultural Studies andererseits zu vergleichen. Zwar teilen HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. mit EliotEliot, Thomas S. die Ablehnung und Geringschätzung der modernenModerne, modern, -moderne MassenkulturMasse,