Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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Ideenwelt begriffen hat. Womit er nicht nur an der Idee der kosmischen Harmonie und Vollkommenheit festhielt, sondern dieser erst zu ihrem philosophischen Prestige verhalf.

      Diese Korrespondenz ist seit KantKant, Immanuel zerbrochen. Der Ideenhimmel befindet sich im Kopf des Menschen und wir sind Alleinunterhalter im Weltall. Der Kosmos und die DingeDinge sprechen nicht.10 Nur wir sprechen und konstruieren das Seiende, das bei KantKant, Immanuel zum Ding an sich zusammenschrumpft, über das sich nichts sagen lässt, weil es von uns immer schon ein Besprochenes und Gedachtes ist. Es war nicht nur die Komplexität des Kantischen Denkens, das Lichtenberg, GoetheGoethe, Johann W. und KleistKleist, Heinrich von zur Verzweiflung brachte, sondern auch die unerbittliche Konsequenz, die in seinem Denken begründet liegt, die dem Werk seine geistesgeschichtliche Bedeutung verleihen: dass es keine ‚Heimat‘ des Menschen jenseits seines rationalen Vermögens gibt, OrdnungOrdnung, ordnungs- zu stiften. KantsKant, Immanuel Werk heißt bekanntlich nicht Die reine Vernunft, sondern Kritik der reinen Vernunft, das heißt, es erörtert die Bedingungen der Möglichkeit (und ihre Grenzen), die Welt in ihrer VielfaltVielfalt denkend zu erfassen. Würden wir anders denken als wir denken, was wohl für uns undenkbar ist, dann würden wir das Seiende anders kategorisieren und denken. Der verzweifelte KantKant, Immanuel-Leser KleistKleist, Heinrich von hatte also recht mit seinem Gläser-Vergleich. Wenn wir grüne oder rote Brillengläser trügen (was uns natürlich nicht bewusst wäre), dann würde sich die Welt auf Grund unserer verschobenen Wahrnehmung ändern. Womit, und das war der Kern von KleistsKleist, Heinrich von Verzweiflung, jede Vorstellung einer Wahrheit unabhängig von unserer SubjektivitätSachregisterSubjektivität, subjektiv und unserem kognitiven, ästhetischen und emotionalen Vermögen denkunmöglich geworden ist. Seit KantKant, Immanuel hat der RelativismusRelativismus, relativ eine gediegene philosophische Plattform. Die Wesen vom anderen Planeten, die in der Science-Fiction-Literatur sehnsüchtig oder abgründig herbeigeschrieben werden (um unsere Spezies von ihrer anscheinend quälenden kosmischen Einsamkeit zu erlösen), könnten also nicht bloß real, sondern auch symbolisch in einer ganz anderen Welt leben und wir könnten uns womöglich mit ihnen – anders, aber doch mit anderen Lebewesen vergleichbar – gar nicht über die Beschaffenheit des Seins und des Seienden verständigen und austauschen. Oder definieren wir das Mensch-Sein von vornherein so, dass es sich dabei um Lebewesen mit prinzipiell gleicher Ausstattung in puncto KognitionKognition, Wahrnehmung und Emotion handelt?

      Hans BlumenbergBlumenberg, Hans hat, übrigens zu Recht, die häufig verwendete formelhafte Analogie zwischen der Kopernikanischen und der Kantischen Wende in Abrede gestellt. Denn Erstere hat den Menschen mitsamt seinem lächerlich winzigen peripheren Planeten aus dem Mittelpunkt gerückt, während die Philosophie im Gefolge KantsKant, Immanuel das menschliche Gehirn zum Mittelpunkt des Weltalls machte.

      KantKant, Immanuel hat sich bekanntlich vornehmlich auf die Kategorien des Denkens konzentriert und dabei RaumRaum und ZeitZeit als eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit des Denkens gesehen. Aber dieses Denken ist an Formen gebunden, an Zeichen und Symbole. In einem letzten Zwischenschritt kommt CassirerCassirer, Ernst deshalb nun auf die modernenModerne, modern, -moderne Naturwissenschaften seiner Zeit zu sprechen. Diese haben CassirerCassirer, Ernst zufolge, wie schon zuvor ansatzweise bei Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von, gleichfalls die „naive Abbildtheorie der ErkenntnisErkenntnis“ verabschiedet und sind auf die Zeichenhaftigkeit unseres Welterfassens gestoßen. Sie gehen davon aus, dass ihre „Mittel“ keineswegs „Abbilder eines gegebenen Seins, sondern […] selbstgeschaffene Symbole“ seien. CassirerCassirer, Ernst zitiert aus Heinrich HertzHertz, Heinrich‘ Prinzipien der Mechanik (1894), wo es unter anderem heißt:

      Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; […] es ist für ihren Zweck nicht nötig, dass sie irgendeine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben.11

      Anders als in der Wahrnehmung der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, bezieht sich eine naturwissenschaftliche Disziplin wie die moderneModerne, modern, -moderne, mathematisierte Physik nicht auf eine gegenständliche NaturNatur, sondern konstruiert diese vielmehr als einen mathematisch-symbolischen, zeichenhaften RaumRaum, der mit der realen Welt nicht sehr viel zu tun hat.

      Das ist für CassirerCassirer, Ernst aber die entscheidende Pointe. Indem die Erkenntnistheorien KantsKant, Immanuel und der modernenModerne, modern, -moderne Naturwissenschaften traditionelle Abbildtheorien verabschieden, betonen sie fast zwangsläufig die aktive Rolle der ErkenntnisErkenntnis als eines kulturellen und ästhetischen Tuns. Sie konstituieren und ‚erfinden‘ die Realität.

      Diese erkenntnistheoretische Wende, die KantKant, Immanuel eingeleitet hat, zieht drei zentrale Konsequenzen nach sich:

       eine semiotische Wende: Das Hauptaugenmerk der Philosophie muss sich auf die Beschaffenheit eben jener „Bilder“, „Symbole“ und „Zeichen“ konzentrieren und deren besondere Formgebungen analysieren. Sie gewinnt damit zwangsläufig eine ästhetische bzw. – wie wir heute sagen würden – eine medientheoretische Dimension. Wie wir noch sehen werden, findet sich in CassirersCassirer, Ernst Werk bereits in nuce die Idee, Kulturtheorie als SemiotikSemiotik zu begreifen;

       eine epistemologischeepistemologisch Wende: die (NaturNatur-)Wissenschaft muss ihren Anspruch eines unmittelbaren Zugangs zum „Wirklichen“ aufgeben;

       eine pluralistischePluralismus, pluralistisch Wende: Wenn Wissenschaft und Philosophie Zeichen und Bilder zur Voraussetzung haben und wenn sie umgekehrt eine symbolische Form ausbilden, dann liegt es nahe, die Wissenschaft als eine symbolische Sonderform neben anderen zu begreifen und deren Verhältnis zu anderen Formen zu bestimmen und zu analysieren.

      Die Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische überschreitet den Gegenstandsbereich des klassischen philosophischen Denkens, das sich im Wesentlichen auf den Bereich wissenschaftlicher Weltinterpretation konzentriert hat. Programmatisch schließt es jede andere, und dabei gerade die nicht-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Weltbeständen ein. Solche Auseinandersetzungen und Zugangsweisen sind nicht von- bzw. auseinander ableitbar, sondern haben ein je eigenes formales Gefüge. Kultur lässt sich demnach als die VielfaltVielfalt dieser verschiedenen, zum Teil auch miteinander rivalisierenden Weltbezüge verstehen. Durch die Gleichstellung und Berücksichtigung der anderen Weltbezüge wird zugleich manifest, dass auch das Denken nicht reine Betrachtung, sondern eine Tätigkeit, ein Handeln, ein Tun ist. „Die Kritik der Vernunft transformiert sich zur Kritik der Kultur“. Auf die Philosophie bezogen heißt dies, dass Philosophie nur mehr als Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) zu begreifen ist. An die Stelle der ‚Welt‘ als Referenzpunkt tritt die Kultur.12

      CassirerCassirer, Ernst selbst hebt hervor, dass das „rein wissenschaftliche, exakte Weltbegreifen“ bereits in der Philosophie seit KantKant, Immanuel vielfach reflektiert worden ist. Die Pluralisierung meint daher, sich jenen symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische zuzuwenden, die bislang – weil epistemisch13 als eher ‚minderwertig‘ angesehen – vernachlässigt worden sind. Die Abwendung von einem rein szientistischen, d.h. auf Wissenschaftlichkeit beruhenden Weltverständnis und der PluralismusPluralismus, pluralistisch der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) provozieren den Vergleich zwischen diesen, die sich prinzipiell des gleichen symbolischen Materials bedienen.

      Insofern markiert allein diese Pluralisierung eine pragmatische, kulturwissenschaftliche Wende: Wenn Wissenschaft als eine KonstruktionKonstrukt, Konstruktion von Wirklichkeit angesehen wird, dann liegt es nahe – hier gibt es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ansonsten philosophisch ganz anders ausgerichteten amerikanischen Pragmatismus –, Philosophie und ErkenntnisErkenntnis als ein „Tun“, als einen Akt, eine HandlungHandlung zu begreifen. Was CassirerCassirer, Ernst hier – vorsichtig, aber doch einigermaßen konsequent – verabschiedet, ist die Vorstellung des philosophischen Denkens als reiner Betrachtung. Das wissenschaftliche Denken organisiert und konstituiert, anders und doch vergleichbar mit ReligionReligion, religiös, MythosMythos, Mythologie, mythologisch, SpracheSprache und KunstKunst, Kunstwerk, die „Wirklichkeit“, es bildet sie nicht ab, sondern gestaltet sie als soziale und kulturelle Welt.

      Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger


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