Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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wie im amerikanischen Pragmatismus eine ganz spezifische Form von kulturell durchaus relevantem Handlungsvollzug. Wie alle Praxis gibt es in ihr ein Moment von Entscheidung und vor allem Verantwortlichkeit für das eigene Tun. Kulturtheoretisch gewendet, könnte man behaupten, dass die Erforschung, Analyse und Beschreibung von Kultur niemals wertneutral und unpraktisch ist, sondern diese Kultur immer selbst verändert. Das ist ein Moment von ReflexionReflexion, das den Einzelwissenschaften oftmals entgeht. Der MarxismusMarxismus, marxistisch als Gesellschaftstheorie oder die PsychoanalysePsychoanalyse – als Therapieform wie als Anthropologie und Kulturtheorie – haben die GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, auf die sie sich bezogen, nachhaltig verändert. In Umkehrung der berühmten These zu Feuerbach, lässt sich gegen MarxMarx, Karl behaupten, dass die Interpretation der Welt selbst eine Veränderung, also ein Handeln, darstellt.

      Neue Theorien und Disziplinen bringen stets neue Blickwinkel hervor. Im Fall von CassirerCassirer, Ernst ist es die Hinwendung zur ‚Form‘, aber auch die Betonung des Funktionalen. Das Grundprinzip des kritischen Denkens, des Vorrangs der FunktionFunktion gegenüber dem Gegenstand (und damit auch das Primat des Prozesses gegenüber dem Produkt), wird über Philosophie und Wissenschaft hinaus auf Kultur und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich ausgeweitet:

      Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die FunktionFunktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösenReligion, religiös Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, dass daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektivenobjektiv, Objektiv- Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.14

      Das eine Sein lässt sich nicht mehr statisch festhalten, sondern manifestiert sich in der „unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und der Wissensgegenstände“. Der PluralismusPluralismus, pluralistisch, die Vielheit der Weltzugänge, wird hier in einem schwerwiegenden Sinn verstanden. Denn unter dem Pluralismus zerfällt das eine Sein, auf das hin sich das westlich-abendländischeAbendland, abendländisch Denken stets ausgerichtet hat. Oder um bei obigem Beispiel mit den Menschen vom anderen Planeten zu bleiben: In gewisser Weise gibt es – gegen die HegelHegel, Georg W.F.’sche DialektikDialektik, die ReligionReligion, religiös und KunstKunst, Kunstwerk als Vorformen des reinen Wissens (miss-)versteht – diese Inkompatibilität auch ohne die phantasierten kosmischen Fremdlinge. Denn der jeweilige Weltzugang des mythischen Menschen, des modernenModerne, modern, -moderne Künstlers und des Atomphysikers sind nicht zur Deckung zu bringen, obschon ihre kognitive, ästhetische und affektive Ausstattung wenigstens potenziell dieselbe ist. Es mag Überschneidungen und auch Rivalitäten geben, schon deshalb, weil sie sich desselben semiotischen Materials bedienen. Aber sie leben, jedenfalls solange sie beten, komponieren oder vor dem Elektronenmikroskop sitzen, in völlig verschiedenen Welten, die keinen gemeinsamen Nenner haben. In der Vielheit zu leben, bedeutet – schon in einer Binnenkultur – auf Einheit zu verzichten, jedenfalls auf eine Einheit die ontologisch verbürgt wäre. So sind intra- und interkulturelleInterkulturalität, interkulturell Phänomene in einer oftmals als homogenHomogenität, homogen gedachten Kultur unter den Bedingungen von Modernität unvermeidlich.

      Die Einheit lässt sich nur mehr formal herstellen, nur durch den Rekurs auf die Formen und Mittel, deren sich die verschiedenen Objektivierungenobjektiv, Objektiv- einer Kultur (Wissenschaft, MythosMythos, Mythologie, mythologisch und ReligionReligion, religiös, SpracheSprache, KunstKunst, Kunstwerk) bedienen. Der Mensch wird als ein Symbole schaffendes Lebewesen bestimmt, das heißt als ein Wesen, das Kultur hervorbringt und hervorbringen muss. Der Mensch ist ein kulturelles Wesen nicht nur durch die werkzeughafte Bearbeitung von NaturNatur (wie das ein älteres Kulturverständnis nahelegt), sondern durch seine sprachliche und semiotische Bearbeitung derselben. Im Kontrast zu traditionellen Kulturbegriffen schrumpft erkenntnistheoretisch ein Begriff wie „Natur“ auf den Status einer freilich notwendigen Grenzmarke des Denkens ein (so wie die Realität in dieser Perspektive zum „Ding an sich“ wird). Denn ‚Natur‘, das ist unter diesem forcierten erkenntnistheoretischen Blickwinkel, der zugleich kulturwissenschaftlich changiert, eine KonstruktionKonstrukt, Konstruktion durch die symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische einer Kultur. Mit diesem Hinweis kommen wir in die Nähe eines Disputs, wie er etwa in der Geschlechterforschung (GenderGeschlecht (Gender), Geschlecht-, Studies) virulent ist: In radikalen konstruktivistischen, sozusagen hyper-kantianischen Geschlechtertheorien15 wird der binären Geschlechterdifferenz jegliche natürliche Realität abgesprochen und diese als bloße Konstruktion aufgefasst, die durch die symbolischen Formensymbolisch (allgemein) der Kunst und Wissenschaft generiert wird. Eine solche Form von post-kantianischem KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus und Konstruktivismus bildet die Kehrseite der kulturellen Wende, weshalb deren Kritiker auch nicht selten vom linguistischen Idealismus, der die Realität auf Symbolsysteme reduzieren möchte, sprechen. Im Fall der menschlichen Natur gibt es jedoch nicht nur so etwas wie eine Binnenbefindlichkeit des Leiblichen, vielmehr ist der Umkehrschluss, den ein solcher Konstruktivismus vornimmt, fragwürdig: Zwar muss es keine Koinzidenz zwischen ‚Realität‘ und symbolischen Formensymbolisch (allgemein) geben, ob aber die symbolischen Formensymbolisch (allgemein) über die MachtMacht verfügen, durch ihr bloßes Dasein Phänomene wie Tod und SexualitätSexualität beliebig zu modellieren, erscheint zweifelhaft. Die symbolischen Formensymbolisch (allgemein) sind Bedingungen der Möglichkeit, in der Welt zu sein, aber damit nicht automatisch, diese nach Belieben zu verändern.

      Schon KantKant, Immanuel hat nach den Bedingungen der Möglichkeit von ErkenntnisErkenntnis gefragt und sich dabei nicht auf die physikalisch-mathematischen Wissenschaften beschränkt, wie seine Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft deutlich machen. In der kulturellen Wende, wie sie nun CassirerCassirer, Ernst im philosophischen Rahmen des transzendentalen IdealismusIdealismus (philosophisch) vornimmt, werden Zeichen, MedienMedien, Medien-, -medien, medien-, SpracheSprache, symbolische FormenFormen, symbolische zu den Bedingungen der Möglichkeit von Welterfassung und -konstruktion. In diesem Sinn ist CassirerCassirer, Ernst der Vordenker der semiotischen Wende der zu Kulturwissenschaften mutierten Humanwissenschaften. Dabei kommen Symbolik und SemiotikSemiotik eine maßgebliche Bedeutung zu.

      […] so fährt die Theorie der ‚Zeichen‘ […] fort, die SpracheSprache der Abbildtheorie der ErkenntnisErkenntnis zu sprechen; – aber der Begriff des ‚Bildes‘ hat nun in sich selbst eine innere Wandlung erfahren. Denn an die Stelle einer irgendwie geforderten inhaltlichen Ähnlichkeit zwischen BildBild und Sache ist jetzt ein höchst komplexer logischer Verhältnisausdruck, ist eine allgemeine intellektuelleIntellektueller, intellektuell Bedingung getreten, der die Grundbegriffe der physikalischen Erkenntnis zu genügen haben. Ihr Wert liegt nicht in der Abspiegelung eines gegebenen Daseins, sondern in dem, was sie als Mittel der Erkenntnis leisten, in der Einheit der Erscheinungen, die sie selbst aus sich herausstellen.16

      Was CassirerCassirer, Ernst zu Eingang des Zitates festhält, ist bemerkenswert und gilt bis heute: Während wir heute wissen, dass das Denken die Welt nicht abbildet, sondern semiotisch konstruiert und erfasst, sind wir in unserem Alltagsdenken Abbildtheoretiker geblieben. Die Analogie mit der kopernikanischen Wende drängt sich auf: Körperlich und alltäglich verhalten wir uns als Ptolemäer, als Anthropozentriker, obschon wir doch wissen, dass die Sonne sich nicht um die Erde und somit nicht um uns dreht. Alltagswahrnehmung und komplexe Theorien kommen nicht zur Deckung: Wir sehen eine Frau oder einen Mann als eine plastische Epiphanie und nicht eine semiotisch vermittelte, mit unserem Wahrnehmungsapparat korrespondierende, durch bestimmte Traditionen der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische unserer Kultur bedingte KonstruktionKonstrukt, Konstruktion eines an sich unbestimmten, symbolisch offenen Seienden.

      Unermüdlich betont CassirerCassirer, Ernst den Entwurfscharakter jener Mittel der Weltschaffung, ohne dass ihm freilich eine konsistente Zeichentheorie als Grundlage einer modernenModerne, modern, -moderne Kulturtheorie gelänge. Im Gefolge von Heinrich HertzHertz, Heinrich definiert er das SymbolSymbol als ein „Scheinbild“, „um die Welt der sinnlichen Erfahrung zu beherrschen und als gesetzlich-geordnete Welt zu übersehen“, dem „aber in den sinnlichen Daten selbst unmittelbar nichts entspricht“.17

      Lange hat die SpracheSprache als bloßer Ausdruck, als Hülle und Gewand, als neutrales


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