Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
dass diese die jeweilige Kultur begründen.
Bei VicoVico, Giambattista ist ein Blick bereits ausgebildet, den man als ethnographisch bezeichnen kann. Dabei wird der MythosMythos, Mythologie, mythologisch zu einem Schlüssel, der uns fremde Kultur – hier eine fremde Kultur in der ZeitZeit, nämlich die vorklassische, ‚barbarische‘ griechische Kultur – näher bringt. In den Mythen werden auch jene drei FunktionenFunktion in der Kultur benannt, die VicoVico, Giambattista als charakteristisch für jedwede Art von Kultur ansieht. Sie bilden die Grundelemente aller menschlichen Kultur. Ihre Herkunft leitet VicoVico, Giambattista aus der Epiphanie des Göttlichen, aus „den göttlichen Dingen“12 ab, über die die Welt des MythosMythos, Mythologie, mythologisch berichtet. Ganz offenkundig werden sie in VicosVico, Giambattista allegorischer Mythen-Deutung als gleichnishafte Darstellungen allgemeiner Sachverhalte und abstrakter Begriffe verstanden. Diese werden in der „Neuen Wissenschaft“ im rhetorischen Stil, wie ihn die Renaissance hervorgebracht hat, mnemotechnisch allegorisiert und sichtbar gemacht. VicosVico, Giambattista neue „kritische KunstKunst, Kunstwerk“ möchte die philologische Methode kritisch hinterfragen und zugleich die Philosophie für jene dunklen Themen öffnen, die ihr bislang verschlossen geblieben ist. Sie begreift sich als eine Lehre „von all den Dingen, die vom menschlichen Willen abhängen, wie die GeschichteGeschichte der Sprachen, der Sitten und der Ereignisse, sowohl im Krieg wie im Frieden der Völker“.13
Das erste Grundelement der Kultur ist nach VicoVico, Giambattista die Ehe. Sie stellt gleichsam das symbolische BandBand, symbolisch zwischen den Lebenden und den Geschlechtern dar. Mit ‚Ehe‘ ist hier nicht nur die FunktionFunktion des Vertraglichen, sondern auch der ganze SymbolismusSymbolismus und das RitualRitual, der feierliche Akt als solcher gemeint. Er wird in VicosVico, Giambattista Bildkomplex durch das Feuer auf dem Altar, durch die Fackel, durch Wasser und Feuer versinnbildlicht. Er gilt als göttliche Zeremonie, womit auch erklärlich wird, dass dieses symbolische BandBand, symbolisch, dessen Stiftung den Göttern zugesprochen wird, nicht so ohne Weiteres auflösbar ist.
Das zweite Grundelement der Kultur ist das Begräbnis, das symbolische BandBand, symbolisch zwischen Lebenden und Toten. Es korrespondiert mit dem Bildkomplex der Aschenurne und der Inschrift und beschwört die Unsterblichkeit der Seelen. Es verweist auf jenen Themenkomplex, der in den Kulturwissenschaften unserer Tage mit dem Thema GedächtnisGedächtnis und ErinnerungErinnerung verknüpft ist.
Das dritte Grundelement ist das symbolische BandBand, symbolisch des Eigentums, der Teilung der Felder. All diese Grundelemente haben einen funktionalen und einen symbolischen Aspekt.14 Nur in diesem untrennbaren Konnex entfaltet sich ihre suggestive Kraft, jene kulturelle Energie, denen sich die Menschen einer Gemeinschaft unterwerfen. Der SymbolismusSymbolismus dieser feierlichen DingeDinge umreißt den kulturellen Aspekt (Kultur II), der Vertrag den sozialen (GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich). Der selbstverständliche RaumRaum dieses Geschehens wäre die Gesamtkultur (Kultur I → Kap. 1).
In eine moderneModerne, modern, -moderne SpracheSprache übersetzt, stellt die erste FunktionFunktion paradigmatisch den synchronenSynchronie, synchron Aspekt jeder Kultur dar, eben das symbolische BandBand, symbolisch zwischen den Lebenden, das durch die Geschlechterbeziehung seine prominenteste und exponierteste, ‚tiefste‘ Formgebung erhält. Es stiftet Zusammenhang und IdentitätIdentität und weist so über die rein funktionale Absicht hinaus. Dass dieses Bedürfnis auch in modernen Gesellschaften fortlebt, kann man sich an zwei Beispielen anschaulich machen. Das erste betrifft die Forderung homosexueller Gruppen in den westlichen Gesellschaften nach einer symbolischen Anerkennung homosexueller Paare in Form der Ehe. Diese Forderung hat, von der praktischen Seite (Erbschaft, Steuer) einmal abgesehen, mit der kulturellen Anerkennung und dem sozialen Prestige der traditionellen Ehe zu tun, die sie ungeachtet oder gerade trotz ihrer unverkennbaren Krisensymptome noch immer zu besitzen scheint. Aber ganz offenkundig besteht in Kulturen ein Bedürfnis, der eigenen LebenspraxisLeben, Lebens-, -leben Gültigkeit zu verschaffen und sie symbolisch-mythisch zu bearbeiten. Nur so ist es zu erklären, dass auch unverheiratete Paare ganz eigene private RitualeRitual entwickeln, um ihre Zusammengehörigkeit jenseits staatlicher Beglaubigung einander zu versichern und zu verbürgen.
Die zweite FunktionFunktion verweist auf den diachronenDiachronie, diachron Aspekt von Kultur und symbolisiert den Umgang mit dem Tod, darüber hinaus auch den Umstand, dass Kultur etwas darstellt, das den Tod des Einzelnen übersteigt. Hier ist ein wichtiger Unterschied zwischen den sich überschneidenden Begriffskomplexen ‚Kultur‘ und ‚GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich‘ auffällig: Während ‚Gesellschaft‘ in den Sozialwissenschaften vornehmlich als ein abstraktes, ausdifferenziertesAusdifferenzierung, ausdifferenziert, funktionales synchrones Gebilde angesehen wird (in dem Tradition allenfalls ein Faktor unter vielen ist), als ein System, das nicht selten als Maschine metaphorisiert wird, enthält ‚Kultur‘, jedenfalls in klassischen Konzepten wie in jenen VicosVico, Giambattista, HerdersHerder, Johann G. oder GoethesGoethe, Johann W. eine gegenläufige Konnotation: Kultur wird als konkretes, holistischesholistisch, organisches Gebilde verstanden, das eine unverzichtbare diachroneDiachronie, diachron Achse besitzt. Im Unterschied zu Gesellschaft ist Kultur stets als eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten imaginiert. In jeder katholischen Messe wird die Anwesenheit der verstorbenen Mitglieder der Gemeinde angerufen und imaginiert. Das symbolische BandBand, symbolisch zwischen Lebenden und Toten hat eine strukturellStruktur, strukturiert, strukturell religiöseReligion, religiös und mythische Dimension. Das Erinnern und Gedenken steht von daher nicht umsonst im ZentrumZentrum heutiger Kulturwissenschaften. Es verbürgt und beschwört die kollektive IdentitätIdentität einer kulturellen Entität (Familie, Stamm, Volksgruppe, NationNation, Nationalismus, national, Großkultur). Kultur meint jene Dimension des LebensLeben, Lebens-, -leben, die wir selbstverständlich vorfinden. Wir sind nicht in die Welt geworfen,15 wir sind in eine Welt geraten, die immer schon eine kulturelle ist. Keine Generation muss Kultur neu erfinden. TechnikenTechnik, -technik, PraktikenPraktiken, ErzählungenErzählung(en), Einrichtungen – sie sind alle bereits vorhanden. Wenigstens potenziell überdauert die Kultur den Einzelnen. Vermutlich wird in 100 Jahren keiner der heute lebenden Menschen in Deutschland oder Österreich oder sonst wo noch am LebenLeben, Lebens-, -leben sein. Aber wir gehen von der Möglichkeit aus, dass die kulturelle Entität ‚Deutschland‘ oder ‚Österreich‘ oder die ‚Fidschi-Inseln‘ Bestand hat. Natürlich werden die Menschen in diesem geographischen wie symbolischen RaumRaum (symbolischer) ihre jeweilige Kultur verändert haben, aber zumindest leben wir in der Erwartung, dass es auch dann noch Deutsche, Österreicher und Fidschi-Insulaner geben wird. Zwischen diesem Versprechen der Kultur als Garant stabiler, die ZeitenZeit überdauernder Identität und der realen Wandlungsfähigkeit von kulturellen Gemeinschaften besteht gerade im Hinblick auf eine wandlungsfreudige ModerneModerne, modern, -moderne eine gewisse Kluft.
Verläuft der Wandel indes zu dramatisch, dann sind mit einiger Gewissheit Reaktionsbildungen zu erwarten, die die jeweilige IdentitätIdentität sicherstellen. Die kulturkritischen Reaktionen auf die GlobalisierungGlobalisierung, global stellen zweifelsohne einen solchen Reflex symbolischer Selbstversicherung dar. Mythische Gesellschaften lassen sich dadurch kennzeichnen, dass ihre ErzählungenErzählung(en) mehr implizit als explizit kulturellen Wandel zu unterbinden versuchen. Die Wiederholung der zentralen mythischen Geschichten bezieht sich auf die Beschwörung der mit ihnen einhergehenden alltäglichen Sitten und Gebräuche, aber auch auf die festlichen Zentralereignisse (Initiation, Bestattung, Hochzeit).
In jedem Fall darf man die ‚göttliche‘ Stiftung und Einrichtung des Begräbnisses nicht nur in einem engen Sinn begreifen. Der moderneModerne, modern, -moderne Totenkult umfasst zum Beispiel die säkularen Heiligenkalender, sprich Geburts- und Todestage der jeweiligen Großen und Größen der NationNation, Nationalismus, national, Straßennamen, Briefmarken, Photos, Filme, sämtliche Formen von Archiven, Museen und Bibliotheken, die feierliche Bezeichnung von bestimmten Orten, Bücher, Dokumentationen – die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen.
Aber auch das Band der Ehe steht für eine ganze Reihe von Verbindungen, die geregelt und symbolisiert sind. Wie wir bei Sigmund FreudFreud, Sigmund gesehen haben (→ Kapitel 2), beinhaltet dieses symbolische BandBand, symbolisch der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich auch ganz bestimmte Regeln des Ausschlusses: Nicht jeder darf jeden heiraten (Inzest, Exklusion von HomosexualitätHomosexualität,