Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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jedem PartikularismusPartikularismus eigen ist:

      Das Vorurteil ist gut, zu seiner ZeitZeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkt zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissende, vourteilendste NationNation, Nationalismus, national ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes.26

      Wenn das Glück einer partikularen Kultur, die ja nicht selten das Unglück einer anderen mit sich bringt, zum Maßstab wird, dann gibt es keinen Maßstab mehr: Das nazistische ‚Glück‘ der Deutschen war das Unglück ihrer Nachbarn und des europäischen Judentums, das ‚Glück‘ der Kolonialherren das Unglück der kolonialisiertenKolonialismus, kolonialisiert Völker. KantKant, Immanuel hatte vermutlich übertrieben, als er das Glück per se als unmoralisch verwarf, er war aber sehr wohl im Recht, als er bestritt, dass das Glück eine moralische Kategorie darstellt.

      Es gibt nicht einen Theoretiker HerderHerder, Johann G., es gibt deren mindestens zwei: einen, der seine Kulturtheorie in Einklang mit dem humanistischen DiskursDiskurs seiner ZeitZeit zu bringen trachtet, und einen anderen, der das Loblied auf das Glück von PartikularismusPartikularismus, Ethnozentrismus und Selbstgenügsamkeit singt. Einen HerderHerder, Johann G., der sich für die VielfaltVielfalt der Kulturen stark macht und einen, der diese Vielfalt innerhalb der singulären Kulturen ignoriert. Die DekonstruktionDekonstruktion hat uns beigebracht, unser Hauptaugenmerk nicht auf die Konsistenz und innere Stimmigkeit von Texten zu legen, sondern auf ihre Brüche.

      Betrachten wir vor diesem Hintergrund HerdersHerder, Johann G. Kulturanthropologie, in der anthropologische und philosophische Gesichtspunkte miteinander verschmelzen. Letztendlich bildet – argumentativ ganz verschieden von FreudFreud, Sigmund, aber strukturellStruktur, strukturiert, strukturell ganz ähnlich – die Anthropologie bei HerderHerder, Johann G. das Fundament seiner Kulturtheorie. HerdersHerder, Johann G. zentraler Befund lautet: Der Mensch kommt phylogenetisch wie ontogenetisch nicht fertig auf die Welt. GeschichteGeschichte ist daher immer schon eine BildungsgeschichteBildungsgeschichte des Menschen. Freiheit wird aus Not geboren: Denn schon HerderHerder, Johann G. zeichnet den Menschen, auch wenn er den Ausdruck (noch) nicht gebraucht, als ein sinnliches Mängelwesen. Der Mensch macht aus der Not eine Tugend und das Kind, das dieser Not entspringt, ist eben die Freiheit.

      Kultur, und hier vor allem die SpracheSprache, deren expressive und emotive FunktionFunktion HerderHerder, Johann G. hervorhebt, wird als MediumMedium der Selbstentfaltung begriffen. Wie die betreffende Kultur, so existiert auch der Mensch nicht abstrakt, sondern immer in seiner Einmaligkeit, nur als Thema mit unendlicher Variationsbreite in einem unverwechselbaren, je eigenen konkreten und historischen KontextKontext. Auch in seiner Kulturanthropologie versucht HerderHerder, Johann G., zwei NarrativeNarrative (→ Kap. 13) miteinander zu versöhnen: das lineare Fortschrittsnarrativ, das hier in der Variante der Erziehungs- und BildungsgeschichteBildungsgeschichte auftaucht (LyotardLyotard, Jean F. zufolge ist dies die deutsche Variante der großen ErzählungErzählung(en) der AufklärungAufklärung, aufklärungs-27), mit dem ‚labyrinthischen‘ Narrativ von VielfaltVielfalt und Relativität. Während also die Menschheitskultur, die es stets nur im Plural gibt und niemals als globaleGlobalisierung, global Monokultur, letztendlich doch dem Vektor des FortschrittsFortschritt folgt, bewegen sich die singulären Kulturen in einer Kreisbewegung. Ihr Untergang schafft RaumRaum für neue Kulturen, die den Fortschritt vorantreiben. Das lineare (besser vektoriale) und das zyklische BildBild von GeschichteGeschichte und Kultur stehen unvermittelt nebeneinander.

      Letztendlich triumphiert aber die Idee des Wandels und der BildungBildung über das Lob einer in sich beharrenden Selbstgenügsamkeit. Der Mensch ist ein gewordenes Wesen, das stets im Wandel befindlich ist. HerderHerder, Johann G. plädiert, unter Zuhilfenahme der Etymologie auf eine Vernunft, die das Konkrete vernimmt und die mehr ist als bloße Zweckrationalität, das, was Max HorkheimerHorkheimer, Max viel später als „instrumentelle Vernunft“ bezeichnen wird:

      Hieraus erhellet, was menschliche Vernunft sei: ein Name, der in den neuen Schriften so oft als ein angebornes Automat gebraucht wird und als solches nichts als Mißdeutung giebet. Theoretisch und praktisch ist Vernunft nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und LebensweiseLeben, Lebens-, -leben gebildet worden […] die Vernunft des Menschen ist menschlich.28

      Die Vernunft HerdersHerder, Johann G. ist dynamisch und plastisch. HerdersHerder, Johann G. Vorliebe für das Konkrete und für die kulturelle VielfaltVielfalt bedingen einander. Der Vernunft der AufklärungAufklärung, aufklärungs- in ihrer Hauptströmung fehlt dieses kulturelle Sensorium HerderHerder, Johann G. zufolge. Mit der Philosophie der Aufklärung und gegen den faktischen frühkolonialistischen RassismusRassismus, Rasse seiner ZeitZeit geht HerderHerder, Johann G. davon aus, dass es nur eine Menschheit gibt, aber die Menschheit kommt nur in der Vielheit vor. Der Mensch, Produkt und Produzent von Kultur, ist von NaturNatur aus ein physisch schwaches Wesen („zur zartesten Gesundheit“), das seine Schwäche durch Kultur, um einen Ausdruck von Arnold Gehlen zu verwenden, kompensiert. Die hohe Sensitivität des Menschen, die für das Phänomen Kultur eine entscheidende Rolle spielt, ist das Ergebnis seiner langen natürlichen und kulturellen Geburt (der Biologe Adolf PortmannPortmann, Adolf wird den Menschen später als Nesthocker beschreiben29).

      Das menschliche Kind kommt schwächer auf die Welt, als keins der Tiere: offenbar weil es zu einer Proportion gebildet ist, die im Mutterleibe nicht ausgebildet werden konnte.30

      Der Mensch, und das ist bemerkenswert neu, wird als ein Wesen verstanden, das unfertig auf die Welt kommt. Diese Unvollkommenheit ist die eigentliche Ursache für Kultur: für die SymbolbildungSymbolbildung durch die SpracheSprache. Durch die Kultur schafft sich der Mensch ein zweites Mal: Der Mensch ist ein künstliches Wesen.

      Wie schon bei VicoVico, Giambattista ist auch bei HerderHerder, Johann G. ein merkwürdiger Widerspruch vorherrschend: Einerseits gibt es da, vor allem bei HerderHerder, Johann G., eine durchaus irdische Vorstellung vom Menschen, ja fast so etwas wie einen kulturellen MaterialismusMaterialismus, andererseits operiert seine anthropologisch untermauerte Kulturtheorie mit einer Metaphysik, die noch immer mit der göttlichen Vorsehung rechnet: HerdersHerder, Johann G. „List der Vernunft“ ist die VielfaltVielfalt. Die Vielfalt der Kultur.

      HerderHerder, Johann G. ist fasziniert von der Volkskultur, gerade von fremden Sprachen und der Polyglossie seiner Heimat. Er sammelt das Fremde in der eigenen Kultur und den Nachbarkulturen. Der Philosoph aus der PeripheriePeripherie ist ein Metaphysiker der Popularkulturen seiner ZeitZeit. Den MythosMythos, Mythologie, mythologisch, der in der Kulturtheorie so eine prominente Rolle spielt, feiert er als Vereinigung von PoesiePoesie und ReligionReligion, religiös. Er, der Liebhaber des Ossian, den er wie viele andere auch für echt hält, sieht in der Volkskultur das Echte, Ursprüngliche, Authentische. Gefeiert wird das Gefühl, das stets dem Konkreten zugewandt ist und das noch nicht in den Sog irrationalistischer Theoreme geraten, sondern mit der Vernunft verbunden ist. All diese Momente haben HerderHerder, Johann G. unter veränderten kulturellen, politischen und geistigen Gegebenheiten zu einer wichtigen intellektuellenIntellektueller, intellektuell Bezugsgröße für die Erfinder der ‚uralten‘ NationenNation, Nationalismus, national in Europa gemacht, die beim Lauschen der alten Weisen das neue Gefühl des Nationalismus, eine Kultur, die programmatisch partikularistisch ist, erprobt und realisiert haben.

      Volkskultur ist für HerderHerder, Johann G. aber nicht nur eine ursprüngliche Kultur, sondern eine Kultur gegen die Unterdrückung. HerderHerder, Johann G. darf man sich nicht als einen politischen Reaktionär und preußischen Krautjunker vorstellen, er war selbst eher ein ‚Progressiver‘, kein Nationalist, wenigstens nicht im heutigen Sinn; seine Liebe als Sammler und Kulturökologe galt den sogenannten staatenlosen Kulturen Osteuropas (Polen und dem Baltikum), die von Preußen unterdrückt und dominiert wurden. HerderHerder, Johann G. war ein scharfer Kritiker von KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert und SklavereiSklaverei:

      Je mehr wir Europäer Mittel und Werkzeuge erfinden, euch andern Weltteile zu unterjochen, zu betrügen und zu plündern


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