Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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Alltags- des intersexuellen ZusammenlebensLeben, Lebens-, -leben: die Organisation von Intimität und Öffentlichkeit, von Arbeit und Kindererziehung und Etliches mehr.

      Was die exogame Ehe als symbolische Hilfskonstruktion überbrückt, ist FremdheitFremdheit in der eigenen Klein- oder Großkultur: zum einen die Fremdheit der Geschlechter, zum anderen aber die Fremdheit einander zunächst unbekannter Menschen, Familien und Sippen. Die Ehe ist aber auch deshalb ein kulturelles Grundelement, nämlich insofern, als die binäre Opposition der Geschlechter in allen Kulturen dieser Welt das tragende Bauelement der soziokulturellen Architektur darstellt. Es gab vom Amazonen-MythosMythos, Mythologie, mythologisch bis zum radikalen FeminismusFeminismus immer wieder das Bestreben, dieses soziale Band der Geschlechter zu zerschneiden. Damit einher geht die auf den Amazonen-Mythos zurückgehende Utopie einer klaren und kompromisslosen Trennung der Geschlechter, die einigermaßen endgültig getrennt voneinander in verschiedenen Stadtteilen leben sollten.

      Die dritte FunktionFunktion kombiniert den synchronenSynchronie, synchron und den diachronenDiachronie, diachron Aspekt und symbolisiert die Eigentumsverhältnisse. Vermutlich lässt sie sich von den beiden anderen Grundfunktionen ableiten. Eigentumsverhältnisse ändern sich, weil Menschen, die vorher voneinander getrennt waren, miteinander ein symbolisches BandBand, symbolisch (Ehe) eingehen. Eigentumsverhältnisse ändern sich, weil Menschen sterben, Häuser, GeldGeld oder Felder dabei übrig bleiben. Die Veränderungen, die durch die beiden ersten Grundelemente notwenig bewirkt werden, bedürfen klarer, verlässlicher Spielregeln und entsprechender symbolischer Formgebungen und Sinnstiftungen. Auch hier wird sichtbar, dass Kultur das Versprechen von Stabilität oder, anders gewendet, die Drohung der Unentrinnbarkeit in sich trägt. Sobald Kultur einmal gestiftet ist, wirkt sie zunächst konservativkonservativ. Kultur ist also tendenziell etwas, was die LebenszeitLeben, Lebens-, -leben des einzelnen Menschen überdauern will.

      VicosVico, Giambattista Einfluss auf die Kulturgeschichte und die Kulturwissenschaften ist bis heute latent vorhanden, gleichsam unterirdisch spürbar. Er gilt als Begründer der Kulturgeschichte und als Vorläufer der Ethnologie. Als erster hat VicoVico, Giambattista den Kontrast der Wissenschaftskulturen präzise beschrieben und hat auch Gedankengänge von Rousseau und HerderHerder, Johann G., sowie der RomantikRomantik und des HistorismusHistorismus vorweggenommen. Zur Eigenart der auf ihn gründenden Kulturtheorie gehört ihr höchst eigenartiger Konnex mit der Geschichtsphilosophie. Der panoramische Blick auf die Kulturen, die als eine Größe im RaumRaum und in der ZeitZeit bestimmt werden, scheint zur geschichtsphilosophischen Spekulation einzuladen. Wenn es stimmt, dass die schiere Existenz miteinander inkompatibler Kulturen zum RelativismusRelativismus, relativ führt, dann besteht im DiskursDiskurs über Kultur und nicht erst in einem radikalen KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus strukturellStruktur, strukturiert, strukturell die Möglichkeit, das GeschichtsbildGeschichtsbild der eigenen Kultur radikal in Frage zu stellen: Das ist mit dem Eintritt in jene so schön mehrsinnige ‚Neuzeit‘ die Idee des FortschrittsFortschritt. Schon bei VicoVico, Giambattista ist ein kontrastives Geschichtsbild zur nachfolgenden AufklärungAufklärung, aufklärungs- vorgezeichnet.

      VicosVico, Giambattista neue Wissenschaft möchte der Philosophie neue Themen erschließen und die klassische Philologie dadurch zur „Form der Wissenschaft“ zurückführen, auf dass sie den „Plan einer ewigen idealen GeschichteGeschichte entdeckt“, nach der die Geschichten aller Völker in der ZeitZeit verlaufen. Diesen Plan identifiziert HerderHerder, Johann G. mit dem theologisch besetzten Begriff der „Vorsehung“. Die GeschichteGeschichte aller Völker – und hier nimmt VicoVico, Giambattista entscheidende Gedanken späterer Denker wie HerderHerder, Johann G., SpenglerSpengler, Oswald oder ToynbeeToynbee, Arnold J. vorweg – verläuft nach dem Schema von Aufstieg, FortschrittFortschritt, Verfall und Ende.16 Bei HerderHerder, Johann G. wird, wie wir noch sehen werden, dieser Zyklus, den einzelne Kulturen durchlaufen, in einer organischen Metaphorologie gefasst: Alle Völker, aber auch Partikularkulturen durchlaufen „eine Periode des Wachstums, der Blüte und der Abnahme“.17

      Zugleich aber findet sich bei VicoVico, Giambattista noch ein anderes, auf antike Denkmuster zurückzuführendes geschichtsphilosophisches Konzept, das die Idee der ewigen Wiederkehr modifiziert. Es ist die Idee der drei Stadien, und sie führt vom Zeitalter der Götter (Stadium 1) über das Zeitalter der Heroen (Stadium II) zum Zeitalter der Menschen (Stadium III). Damit einher geht eine Abfolge von Sprachen – die SpracheSprache der Hieroglyphen, die Geheimsprache (Stadium I), symbolische SpracheSprache (Stadium II), die Vulgärsprache (Stadium III) – sowie eine Abfolge politischer Systeme: Die HerrschaftHerrschaft des göttlichen Orakels wird abgelöst von der aristokratischen Republik und diese wiederum von der „volksfreien Republik“ bzw. von der Monarchie.18

      Mit diesem typologischen Denken finden wir uns schon ganz nahe der Gedankenwelt HerdersHerder, Johann G.. Johann Gottfried HerderHerder, Johann G. wurde 1744 in der Provinzstadt Mohrungen in Ostpreußen geboren und starb 1803 in Weimar. Nicht leicht zu sagen, was dieser Sohn eines pietistischen Kantors und Lehrers gewesen ist: Literaturkritiker, mit dem Ehrgeiz, der Nachfolger LessingsLessing, Gotthold E. zu werden, Theologe, Philosoph, Volkskundler, Autor, Verfasser eleganter und gefühliger Liebesbriefe. HerderHerder, Johann G. begann seine intellektuelleIntellektueller, intellektuell Karriere als Student der Medizin und der Theologie in Königsberg. Sein Interesse galt aber offenkundig der Philosophie und ihrem schon zu Lebzeiten berühmten Repräsentanten: Immanuel KantKant, Immanuel. Anfänglich scheint HerderHerder, Johann G. dessen glühender Anhänger gewesen zu sein; mehr und mehr ging er, nicht zuletzt unter dem Einfluss des mit ihm befreundeten Sprachphilosophen Johann Georg Hamann und intensiver Rousseau-Lektüre, auf Abstand zu dieser rationalistischen Philosophie der Spätaufklärung. Mit dieser Wende wurde HerderHerder, Johann G. einer der ersten Philosophen nach der AufklärungAufklärung, aufklärungs-.

      Zunächst war HerderHerder, Johann G. als Prediger an der Domschule in Riga, 1769 geht er, 25-jährig, auf Reisen. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass es ein Abschied für immer sein wird. Aber die Erfahrungen, die er in Ostpreußen und im Baltikum gemacht hat, führt HerderHerder, Johann G. als geistiges Gepäck mit sich. Dazu gehört vor allem die Kenntnis eines mehrsprachigen und multikulturellen Ortes. Denn die Gegend, aus der HerderHerder, Johann G. stammt, ist ein kultureller Kreuzungspunkt deutscher, slawischer und baltischer Kulturen.

      Die Reise führt ihn nach Deutschland, in die Niederlande und nach Frankreich. Der Aufenthalt im Land der AufklärungAufklärung, aufklärungs- war – nach der Abkehr von KantKant, Immanuel – das zweite einschneidende Erlebnis seines intellektuellenIntellektueller, intellektuell LebensLeben, Lebens-, -leben. In seinen Briefen beschreibt er die geistige Atmosphäre in der Welt der philosophes als kalt und hochmütig. Er hat Frankreich neugierig, wenn auch nicht im Überschwang betreten, er wird es als deklarierter Gegner der Aufklärung verlassen, der doch nicht von ihrem DiskursDiskurs los kommt. In Straßburg macht er die Bekanntschaft mit dem damals gänzlich unbekannten, fünf Jahre jüngeren GoetheGoethe, Johann W., die, im Nachhinein überhöht, für seinen weiteren LebenswegLeben, Lebens-, -leben entscheidend sein sollte. Nach einem kurzen Intermezzo im Fürstentum Oldenburg wird er nicht zuletzt auf Betreiben GoethesGoethe, Johann W. 1776 Generalsuperintendent in Weimar. Diese Position als höchster Repräsentant der protestantischen Kirche in einem Kleinstaat macht es ihm möglich, den eigenen intellektuellen Neigungen nachzugehen und sein Werk zu komplettieren. HerderHerder, Johann G. hat sich im Laufe seiner Karriere als Literaturkritiker, als Übersetzer und Liedersammler hervorgetan. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Abhandlung über den Ursprung der SpracheSprache (1770), die Streitschrift Auch eine Philosophie der GeschichteGeschichte zur BildungBildung der Menschheit (1774) sowie die Ideen zur Philosophie der GeschichteGeschichte der Menschheit (1784–1791).

      Die Streitschrift von 1774, die schon im Titel den Kontrast zum Narrativ der AufklärungAufklärung, aufklärungs- hervorhebt, darf man als Summa seiner intellektuellenIntellektueller, intellektuell Erfahrungen mit dem philosophischen Frankreich lesen, auch wenn in ihr nur selten deren Vertreter genannt werden oder zu Wort kommen. Der ausrufende emotionale Tonfall der Schrift, die ihre Herkunft aus dem pietistischen Milieu schwerlich verleugnen kann, präsentiert sich rhetorisch als Gegenmodell zur kühlen IronieIronie der französischen Spätaufklärung. HerderHerder, Johann G. war ein vielfach begabter Mensch, aber er besaß keinen


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