Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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dem Zeichen im Hinblick auf die Erfassung der Welt eine konstituierende Rolle zu:

      […] das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der MitteilungMitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.18

      Was CassirerCassirer, Ernst entgeht, ist indes, dass das sprachliche Zeichen, so wie es Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de als erster Sprachphilosoph in dieser Schärfe analysiert hat, zwar keine zufällige Hülle des Gedankens, wohl aber zufällig in seiner Gestalt ist, kontingentKontingenz, kontingent und arbiträrArbitrarität, arbiträr. In den Symbolischen Formen wird zwar eine Theorie des Zeichens, eine SemiotikSemiotik also, eingefordert, doch findet sich bei CassirerCassirer, Ernst weder eine systematische Analyse des Zeichens noch eine Unterscheidung von sprachlichen und explizit visuellenvisuell Zeichen. Der schwankende Gebrauch von oftmals synonym gebrauchten Begriffen wie „Scheinbild“, „Zeichen“, „MediumMedium“ und „SymbolSymbol“ macht dies sinnfällig. Deshalb fällt es CassirerCassirer, Ernst schwer, die Ebene der Zeichen und die der verschiedenen Weltzugänge zunächst einmal analytisch zu unterscheiden. So werden die symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische einigermaßen nebulös als Ausdruck wohl ein und derselben geistigen Energie verstanden, die einen intellektuellenIntellektueller, intellektuell Bedeutungsinhalt an ein konkretes Zeichen bindet. Dabei ist unübersehbar, dass CassirerCassirer, Ernst an einer gewissen Form des IdealismusIdealismus (philosophisch) festhält, wenn er etwa schreibt:

      In diesem Sinn bedeutet jede neue ‚symbolische Form‘, bedeutet nicht nur die Begriffswelt der ErkenntnisErkenntnis, sondern auch die anschauliche Welt der KunstKunst, Kunstwerk, wie die des MythosMythos, Mythologie, mythologisch oder der SpracheSprache nach dem Wort GoethesGoethe, Johann W. eine von dem Inneren an das Äußere ergehende Offenbarung, eine ‚Synthese von Welt und Geist‘, die uns der ursprünglichen Einheit beider erst wahrhaft versichert.19

      Wissenschaft (und TechnikTechnik, -technik), MythosMythos, Mythologie, mythologisch und ReligionReligion, religiös, KunstKunst, Kunstwerk sowie SpracheSprache werden als je eigene ModiModus, -modus der Wirklichkeitskonstruktion, wenn auch als Ausformung einer geistigen Energie verstanden. Dabei wird deutlich, dass die Wissenschaft selbst eine symbolische Form und eine semiotische „Objektivierungobjektiv, Objektiv-“ darstellt, so wie alle anderen symbolischen Formationen auch. Auch sie ist das – im Übrigen historisch späte – Ergebnis einer schöpferischen EinbildungskraftEinbildungskraft, auf deren Bedeutung bereits KantKant, Immanuel hingewiesen hatte. Die Kritik der Kultur ist zwangsläufig ästhetisch amalgamiert. Ästhetik meint hier, wie schon gesagt, nicht länger eine Unterdisziplin der Philosophie, sondern wird konstitutiv für eine Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische. Mit der ästhetischen Wende in der Epistemologie geht zwangsläufig ein PluralismusPluralismus, pluralistisch einher: KantKant, Immanuel, von GoetheGoethe, Johann W. aus gesehen. Denn was CassirerCassirer, Ernst hier vorstellt, ist eine Art MorphologieMorphologie des Geistes:

      Nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der SpracheSprache, dem MythosMythos, Mythologie, mythologisch, der KunstKunst, Kunstwerk, der ReligionReligion, religiös ist es eigen, dass sie die Bausteine liefern, aus denen sich für uns die Welt des ‚Wirklichen‘ wie die des Geistigen, die Welt des Ich aufbaut. Auch sie können wir nicht als einfache Gebilde in eine Welt hineinstellen, sondern wir müssen sie als FunktionenFunktion begreifen, kraft deren je eine eigentümliche Gestaltung des Seins und je eine besondere Teilung und Scheidung desselben sich vollzieht.20

      Was entsteht, ist eine Kultur, die in sich gegliedert und – im Gefolge der Systemtheorie würde man sagen – ausdifferenziertAusdifferenzierung, ausdifferenziert ist. Kultur lässt sich mit CassirerCassirer, Ernst als Gesamtheit symbolischer FormenFormen, symbolische, Prozesse und Akte begreifen und bestimmen. Ob es noch mehr als diese vier Formen gibt, die von CassirerCassirer, Ernst erwähnt werden, ist nicht ganz klar. Ausgearbeitet hat CassirerCassirer, Ernst in seinem voluminösen Werk vor allem die symbolischen Formensymbolisch (allgemein) MythosMythos, Mythologie, mythologisch, SpracheSprache und ErkenntnisErkenntnis, während – die rekonstruierte Bibliographie zum Werk, die zahllose philosophische, sprachtheoretische und ethnologische Standardwerke enthält, macht dies überdeutlich – die KunstKunst, Kunstwerk nur marginal und ganz am Rande behandelt wird. Ausgespart bleibt daher nicht nur die moderneModerne, modern, -moderne abstrakte Kunst, die sich doch, wie später der amerikanische Kunsttheoretiker Clement GreenbergGreenberg, Clement21 zeigen sollte, wie eine Parallelaktion zur Kantischen Philosophie (nämlich als selbstreferenzielles Tun, das sich mit den Bedingungen der Möglichkeit bildender Kunst wie Form und Farbe auseinandersetzt) ausnimmt, es fehlt – und das ist 1928 schon einigermaßen erstaunlich – jeglicher Hinweise darauf, wie man kulturelle Phänomene wie Photographie, FilmFilm oder Radio, ohne die KulturanalyseKulturanalyse heute undenkbar ist, den vier symbolischen Formensymbolisch (allgemein) zuordnen soll.

      Man tut CassirersCassirer, Ernst theoretischer Reputation nicht Unrecht, wenn man ihn als Vorläufer begreift, der zwar im Ansatz eine atemberaubend neue Philosophie vorlegt, die ihrer ganzen Anlage nach bereits eine semiotisch orientierte Kulturtheorie ist; anders als SimmelSimmel, Georg (→ Kap. 5), Arnheim22 oder der späte BenjaminBenjamin, Walter (→ Kap. 6) hat CassirerCassirer, Ernst jedoch nicht jene aufregenden medialen und symbolischen Veränderungen in der modernenModerne, modern, -moderne Kultur in Augenschein genommen. Er ist als ein Denker des Übergangs zu begreifen, der zwar das Tor zu einem ganz neuen Verständnis von SpracheSprache und Zeichen aufgestoßen hat, dem es aber nicht gelingt, eine konsistente Zeichentheorie zu entfalten (obschon er die Ideen von PeircePeirce, Charles S., nicht aber jene von Saussure gekannt hat).

      Zwiespältig bleibt CassirersCassirer, Ernst Verhältnis auch im Hinblick auf das, was man heute als LogozentrismusLogozentrismus, logozentrisch bezeichnet. Vermutlich kann er die neukantianische Idee von der Inkompatibilität und Gleichwertigkeit nicht durchhalten, weil er insbesondere den MythosMythos, Mythologie, mythologisch trotz Rückgriffen auf die zeitgenössische ethnologische Literatur im Sinne der klassischen philosophischen Tradition vom Logos her liest und begreift. CassirerCassirer, Ernst möchte auf der einen Seite die verschiedenen ModiModus, -modus der Welterfassung (symbolische FormenFormen, symbolische) in ihrer je spezifischen Eigenart belassen und ihre Irreduzibilität hervorheben, auf der anderen Seite zielt seine Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) darauf ab, sie auf einer formalen, semiotisch-symbolischen Ebene in ein System zu fassen. Schon in der Einleitung wird deutlich, dass der MythosMythos, Mythologie, mythologisch als eine naive symbolische Form anzusehen ist. Insofern folgt CassirerCassirer, Ernst durchaus dem traditionellen Narrativ ‚vom MythosMythos, Mythologie, mythologisch zum Logos‘. Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch gilt als der Ausgangspunkt aller symbolischen Formensymbolisch (allgemein). Er ist unhintergehbar insofern, als sich auch die anderen symbolischen Formensymbolisch (allgemein) desselben semiotischen Materials bedienen wie er selbst.

      Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die SpracheSprache, die wissenschaftliche ErkenntnisErkenntnis, der MythosMythos, Mythologie, mythologisch, die KunstKunst, Kunstwerk, die ReligionReligion, religiös werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs, – zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf ein Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.23

      Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch wird zum einen als eine spezifische symbolische Form sui generis angesehen, zum anderen aber auch als Ausgangspunkt aller symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische. In ihm manifestiert sich auf pathetische Weise der synthetische Anspruch, den mannigfaltigen „Eindrücken“ einen kollektiv gültigen Ausdruck zu verschaffen. So finden sich bereits in der Einleitung zwei argumentative Strategien, die eine, die die Diversität der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) etwa gegen HegelsHegel, Georg W.F. Geschichtsphilosophie betont, die andere, die letztlich doch die VielfaltVielfalt der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) aus einer gemeinsamen geistigen Quelle genetisch herleitet – und das ist in der Tradition insbesondere der deutschen Philosophie der MythosMythos, Mythologie, mythologisch.


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