Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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ist, in der die Renaissance nachhallt. Im Rahmen dieser Einführung sollen vor allem drei zentrale Punkte erwähnt werden, die für die Kulturtheorie bis heute relevant geblieben sind: das VicoVico, Giambattista-Theorem, die Rehabilitierung des MythosMythos, Mythologie, mythologisch und die Lehre von den drei FunktionenFunktion der Kultur.

      Das VicoVico, Giambattista-Theorem besagt, dass die NaturNatur dem Menschen immer bis zu einem gewissen Grad verschlossen bleiben wird, weil sie nicht von ihm selbst hervorgebracht worden ist; die Kultur hingegen ist für den Menschen verstehbar, weil sie von ihm selbst geschaffen ist. Die neue Wissenschaft ist eben die Wissenschaft von den Dingen, Institutionen und Einrichtungen, die der Mensch selbst hervorgebracht hat.

      Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: dass diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muss jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der NaturNatur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der NationenNation, Nationalismus, national, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben.4

      Die Passage verdient einen ausführlichen Kommentar. Zunächst einmal wird in gerader Umkehr zu BaconsBacon, Francis Novum Organum, in dem ja eine neue Epistemologie der Naturwissenschaft umrissen wird,5 eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Human- und Naturwissenschaften getroffen. Es ist das erste Mal in der GeschichteGeschichte der Wissenschaften, dass dieser Gegensatz zwischen ihren beiden Kulturen (C.P. Snow6) so markant beschrieben wird. Die ganze nachfolgende Untersuchung VicosVico, Giambattista macht indes deutlich, dass sich die neue Wissenschaft nicht auf die Geisteswissenschaften oder auf philologische Exegese und Kommentar beschränkt, sondern auf einen weiten Begriff von Kultur (Kultur I → Kap. 1) abzielt, der auch die Bereiche von PolitikPolitik und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, ja sogar das Recht umfasst.

      Die Pointe von VicosVico, Giambattista Theorem besteht aber darin, dass die Wissenschaft von der menschlichen Kultur keine prinzipiellen erkenntnistheoretische Schranken setzt, während die Naturwissenschaften ihren Gegenstand niemals voll erfassen können. Etwas von dem Gegensatz zwischen Verstehen und Erklären, wie er seit Wilhelm Dilthey7 gang und gäbe ist, ist hier bereits vorgedacht. Denn Kulturwissenschaft wird auch bei Dilthey als eine Form von Selbsterkenntnis, Selbstverständnis und Selbstverständigung gedacht. Von einem solchen Prozess kann im Falle der NaturNatur nicht die Rede sein: Das BuchBuch (als Medium) der NaturBuch (der Natur) ist geschlossen. Die Natur bleibt das prinzipiell Fremde, das nicht durch den Bezug auf den Menschen erkannt werden kann. Deshalb fehlt den Naturwissenschaften jener für die Kultur- und Humanwissenschaften eigentümliche Selbstbezug. „Erkennen“ ist hier in einem starken Sinn zu begreifen: als etwas, das man kennt, mit dem man vertraut ist, usw. In jedem Fall entfaltet VicoVico, Giambattista einen über Jahrhunderte maßgeblichen Begriff von Kultur, der diese gleichsam ex negativo definiert: Kultur ist all das, was nicht Natur ist. Natur wiederum ist alles, was der Mensch nicht geschaffen hat. Somit umfasst die KulturanalyseKulturanalyse alle DingeDinge und Einrichtungen dieser Welt, die der Mensch selbst geschaffen hat.

      Was nun das Erstaunen darüber betrifft, warum die Menschen sich erst so spät – eben mit VicosVico, Giambattista programmatischem BuchBuch (als Medium) – mit dem vom Menschen Geschaffenen, der Kultur im weitesten Sinn (Kultur I), beschäftigt haben, so lässt sich dies womöglich, von heute aus betrachtet, durch ein Charakteristikum von Kultur relativRelativismus, relativieren. Denn wie wir bereits gesehen haben, produziert Kultur UnbewusstheitUnbewusste, das, Unbewusstheit, d.h. eine Form reflexionsloser, unbedachter Selbstverständlichkeit, die den menschlichen Einrichtungen und Artefakten den Schein von Natürlichkeit verleihen. Im mythisch-religiösenReligion, religiös Denken wird Gemeinschaft als eine göttliche Stiftung angesehen. Dass die Regeln des Gemeinwesens und Einrichtungen wie Familie, Kirche oder Militär historisch und veränderbar sind, ist das Ergebnis einer späten Einsicht. Noch die Abneigung des konservativenkonservativ Milieus gegen moderneModerne, modern, -moderne Disziplinen wie die Soziologie, die automatisch mit einem linken Projekt von Gesellschaftsveränderung gleichgesetzt wurde, belegt den stummen Widerstand gegen das Erkennen all jener Phänomene, die das Zeichen menschlicher Gestaltung tragen. Wider das Erstaunen VicosVico, Giambattista über die Vernachlässigung der Erforschung der menschlichen Kultur kann man also einwenden, dass DingeDinge, die uns so nah und alltäglich sind, sich zunächst einmal dem Erkannt-Werden entziehen.

      Offen bleibt in seiner Unterscheidung inwiefern der Mensch selbst NaturNatur oder Kultur bzw. Natur und Kultur ist. In VicosVico, Giambattista eigener Logik könnte man sagen, dass sich der Mensch primär, d.h. biologisch nicht selbst geschaffen hat und eine Hervorbringung Gottes bzw. der Natur ist. Sofern er Natur ist und Gegenstand der Naturwissenschaften (geworden) ist, gilt auch für den Menschen das Verdikt des Unbekannten.

      VicosVico, Giambattista zweiter wichtiger Beitrag zur Kulturtheorie stellt die Rehabilitierung des MythosMythos, Mythologie, mythologisch dar. Lange vor der RomantikRomantik und vor SchellingSchelling, Friedrich W.J. (→ Kap. 3) hat VicoVico, Giambattista den MythosMythos, Mythologie, mythologisch als ein ernstzunehmendes kulturelles KonstruktKonstrukt, Konstruktion begriffen. Das ist erstaunlich in einer ZeitZeit – man braucht sich nur die barocken Ansichten der klassischen griechischen Mythen zu besehen –, in der der griechische MythosMythos, Mythologie, mythologisch nur mehr allegorisches Beiwerk zur Darstellung menschlicher Empfindungen darstellt oder eine schiere ästhetische List, den entblößten KörperKörper, körperlich zu präsentieren.

      Für VicoVico, Giambattista ist HomerHomer der erste Autor, der menschlich zu denken begann. Aber der MythosMythos, Mythologie, mythologisch ist nicht bloß eine hübsche Erfindung zur ästhetischen Unterhaltung des Publikums, sondern integraler Bestandteil der Kultur. Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch ist die „wahre und strenge GeschichteGeschichte der Sitten bei den ältesten Völkern Griechenlands“.8 Es wäre lächerlich, die Wahrheit des MythosMythos, Mythologie, mythologisch im Faktischen zu suchen, um ihn dann als ein reines Hirngespinst, als bloße Dichtung oder als kontrafaktisches Erklärungssystem unwissender Menschen zu begreifen. Vielmehr erinnert uns VicoVico, Giambattista daran, dass der MythosMythos, Mythologie, mythologisch mit den Sitten, d.h. mit den Festsetzungen unseres LebensalltagesLeben, Lebens-, -leben, unseres „whole way of life“ (→ Kap. 1) zu tun hat. Wobei VicoVico, Giambattista freilich entgeht, dass sich die Dimension des Mythischen auch in der Neuzeit nicht völlig aufgelöst hat:

      Die heroischen Mythen waren wahre Geschichten der Heroen und ihrer barbarischen Sitten, wie sie bei allen Völkern in ihrer barbarischen ZeitZeit blühten; so dass die beiden Gesänge HomersHomer sich erweisen als zwei große Schatzkammern für Entdeckungen über das natürliche Recht der griechischen Stämme, als sie noch Barbaren waren.9

      MythosMythos, Mythologie, mythologisch und PoesiePoesie werden hier als kulturelle Manifestationen verstanden, deren Wahrheit nicht so sehr eine faktische ist, sondern die uns die Sitten und Gebräuche früherer Epochen und anderer Räume erschließen. Einen zentralen Stellenwert bei der Konstitution von Kultur nimmt für VicoVico, Giambattista die ReligionReligion, religiös ein. Damit greift VicoVico, Giambattista Gedankengängen vor, wie sie dann im 19. Jahrhundert von SchellingSchelling, Friedrich W.J. und BachofenBachofen, Johann J.10 fortgeführt werden. KunstKunst, Kunstwerk (Kultur III → Kap. 1) wird als expliziter Ausdruck von gelebter Kultur verstanden. Nicht ihre philologische Erschließung, sondern ihre kulturwissenschaftliche Auswertung als Quelle steht im Mittelpunkt.

      Anders als im philosophischen DiskursDiskurs über den MythosMythos, Mythologie, mythologisch, wie er im deutschsprachigen RaumRaum Tradition hat, wird dieser nicht so sehr als ein frühes, primitives geistiges Produkt analysiert, sondern im Hinblick auf seinen kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Verweischarakter. Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch erscheint hier als ein sinnstiftendes Prinzip kultureller PraktikenPraktiken, der alltäglichen wie der rituellen. Seine Wahrheit besteht weder in seinem Welterklärungswert noch in seiner Bezugnahme auf eine einmalige


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