Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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wird wie bei SpenglerSpengler, Oswald, ToynbeeToynbee, Arnold J. oder HuntingtonHuntington, Samuel als Gesamtkomplex (Kultur I) holistisch (miss)verstanden.

      In seiner Version einer BildungsgeschichteBildungsgeschichte des Menschen spielt – und das wäre die sechste und letzte Kernthese – die Unvollkommenheit des Menschen eine prominente Rolle. Die Unmündigkeit des Menschen, war nicht, wie KantKant, Immanuel in seiner AufklärungsschriftAufklärung, aufklärungs- schneidig formulierte, selbstverschuldet, sondern unverschuldet. In seinem großen Werk Ideen zur GeschichteGeschichte der Menschheit wird HerderHerder, Johann G. den Gedanken formulieren, dass es – paradox gesprochen – keine freie Entscheidung des Menschen war, frei zu sein. In Auseinandersetzung mit der Aufklärung entwirft HerderHerder, Johann G. eine Kulturanthropologie, die den Menschen nicht als ursprünglich frei und vernünftig begreift, sondern als ein Wesen, das zur Freiheit gezwungen, in die Freiheit entlassen wird.

      Aus heutiger Sicht lässt sich HerderHerder, Johann G. als Theoretiker dadurch anschaulicher machen, dass man ihn mit einem Ökologen vergleicht, der den Schwund der Artenvielfalt in der NaturNatur beklagt und theoretische wie praktische Schritte setzt, die Mannigfaltigkeit der Erde zu erhalten. HerderHerder, Johann G. ist ein Ökologe der Kulturen, der die VielfaltVielfalt nicht als Hindernis, sondern als Voraussetzung für ein friedliches Miteinander sieht. Oder anders ausgedrückt: Vielfalt gilt ihm als ethischer, ästhetischer und kultureller Wert. Weltkultur bedeutet demnach Vielfalt in der Einheit, Einheit in Vielfalt (heute ein Leitspruch der Europäischen Union). Offenkundig legitimiert sich die hohe Wertigkeit der Vielfalt dadurch, dass sie Vervollkommnung ermöglicht. Aber schwierig bleibt immerhin der ethische Grenzkonflikt: Was, wenn der Wert der Vielfalt in Konflikt gerät mit anderen Werten, die wir zumeist mit den Menschenrechten in Verbindung bringen? HerdersHerder, Johann G. Kulturökologie hat praktische Folgen gezeitigt, auch bedenkliche. Der Denker auf dem philosophischen Nebengleis wurde zum Promotor der Erhaltung des Kulturguts der bedrohten, damals staatenlosen Völker etwa in Osteuropa. HerderHerder, Johann G. geht es aber nicht so sehr darum, diese zum politischen SubjektSubjekt zu erheben, sondern vielmehr um die Rettung untergehender Volkskulturen, deren Produkte liebevoll gesammelt werden, um sie dem Vergessen zu entreißen. Im ZentrumZentrum steht die Sammlung ihrer Liedkultur und die Bewahrung ihrer SpracheSprache. Mit dieser Geste nimmt HerderHerder, Johann G. vorweg, was Heerscharen von Volkskundlern, Sprach- und Märchenforschern im 19. Jahrhundert tun werden. Ihre emsige philologische Sammeltätigkeit geht Hand in Hand mit jenem kulturellen Projekt, das wir mit Benedict AndersonAnderson, Benedict als Erfindung der NationNation, Nationalismus, national bezeichnen können.22 NietzscheNietzsche, Friedrich hat diese antiquarischen Historiker in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen mit bösem Spott übergossen, aber er hat vergessen, welch eminent un-antiquarische und durchaus unselige Wirkungen diese Kultur- und Volksökologen gehabt haben.23 HerderHerder, Johann G. und auch schon VicoVico, Giambattista sind von der inneren Einheitlichkeit (Homogenität) von Kulturen ausgegangen. Vielfalt von Kulturen gibt es immer nur auf einer globalenGlobalisierung, global Ebene; die einzelnen nationalen Kulturen, historische und geographische Versionen von Kultur I, werden mehr oder weniger als kompakt angesehen. Der Begriff Volksseele wurde eigentlich erst nach HerderHerder, Johann G. geprägt, aber er bildet das unausgesprochene ZentrumZentrum von HerdersHerder, Johann G. Kulturkonzept. In dieser Metaphysik verschmilzt der Begriff Kultur und Volk zur meta-politischen Kategorie des Kulturvolkes. Jedes von ihnen ist unverwechselbar und klar abgegrenzt vom jeweils anderen. Nur so kann die einzelne Kultur einen Beitrag zur gesamten menschlichen Kultur leisten.

      Hier kommt ein gewisser Systemzwang zum Tragen. Denn es ist gerade der metaphysische Aspekt von HerdersHerder, Johann G. Kulturtheorie, der es ihm möglich macht, seinen Kulturrelativismus mit der großen ErzählungErzählung(en) von FortschrittFortschritt, BildungBildung und Humanität zu versöhnen. Die einzelnen Kulturen, die wie Subjekte agieren, sind in sich unteilbar und von einer unerhörten Beharrlichkeit. HerderHerder, Johann G. ist ein Vertreter von AufklärungAufklärung, aufklärungs- und HumanismusHumanismus, insofern er seine Kulturtheorie mit dem Humanismus der Aufklärung letztendlich versöhnt.

      Dass dies nicht immer leicht vonstatten geht, zeigt der Kulturvergleich zwischen den Einwohnern Feuerlands und der Kultur, die einen Newton oder einen Fenelon hervorgebracht hat. Es gibt nur eine Menschheit, aber diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einer Vielheit von Kulturen lebt:

      […] so ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederauferstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborner: wenn noch nicht vernünftig, wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar. Der Menschenfresser in Neuseeland und Fenelon, der verworfene Pescherei (ein Indianer aus Feuerland, Anm. d.Verf.) und Newton sind Geschöpfe Einer und derselben Gattung.24

      Wie erklärt sich HerderHerder, Johann G. nun diese Multikulturalität im globalenGlobalisierung, global Maßstab? Eine Rechtfertigung dieser VielfaltVielfalt haben wir bereits gehört, ihr Beitrag zur Perfektion des Menschen: friedlicher Wettkampf der Völker um das gleiche humane Ziel. Aber dies lässt sich nur von einem übergeordneten, universalen Standpunkt außerhalb der einzelnen Kultur sagen. Dieses Ziel ist nicht Teil einzelkultureller Selbstbegründung. Immerhin lassen sich – praktisch und handfest – Gründe angeben, warum Kulturen in dieser Welt in verschiedenen Versionen und Variationen entstanden sind. HerderHerder, Johann G. führt insgesamt drei Gründe an:

       Ethnische VielfaltVielfalt ergibt sich aus der DifferenzDifferenz der Klimata und LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben.

       Ethnische VielfaltVielfalt ergibt sich aus dem unterschiedlichen Grad der menschlichen Entwicklung.

       Ethnische VielfaltVielfalt ist das Resultat der Unvollkommenheit des Menschen.

      Retrospektiv ließe sich sagen, dass die vormodernenModerne, modern, -moderne Kulturen nicht über die medialen, administrativen und polizeilich-militärischen Möglichkeiten verfügten, um immer größere Räume sprachlich und kulturell zu vereinigen. Heute ist die Schaffung einer monokulturellen Menschheitskultur, Hoffnung für die einen, Horror für die anderen, technisch besehen machbar. Sehr wahrscheinlich ist sie, ungeachtet gewisser Nivellierungstendenzen, nicht. Nicht nur ist, wie schon mehrfach erwähnt, mit kulturellen Gegenbewegungen zu rechnen, die wir ja bereits heute übrigens nicht nur in der islamischen Welt am Werk sehen. Zum anderen hat ‚Kultur‘ in all ihren Bedeutungsvarianten eine so furchtbare wie fruchtbare FunktionFunktion: Durch und nur durch Kultur, d.h. durch die Ausbildung je eigener Symbole, kann DifferenzDifferenz gesetzt werden, jene Form von Differenz, die den Bestand von IdentitätIdentität und Identitäten garantiert, von Jugendkulturen bis zu den Manifestationen von ganzen Bevölkerungsgruppen und von Angehörigen bestimmter NationenNation, Nationalismus, national.

      Kulturen sind also verschieden, und weil wir verschieden sein wollen, gibt es singuläre Kulturen. HerderHerder, Johann G. betont die Selbstgenügsamkeit der Kultur und die Autonomie jeder Binnenkultur:

      […] jede NationNation, Nationalismus, national hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!25

      Mit dem Glück kommt indes ein neues Kriterium ins Spiel, ein Kriterium, dessen moralische Qualität der strenge Philosoph aus Königsberg in Abrede gestellt hat, das aber im KontextKontext der französischen AufklärungsphilosophieAufklärung, aufklärungs- – man denke etwa an VoltairesVoltaire Candide (→ Kap. 2) – eine zentrale Rolle spielt: die bonheur. An diesen DiskursDiskurs anschließend stellt HerderHerder, Johann G. die riskante These auf, dass die Beschränktheit, die jeder Kultur eigentümlich ist, glücklich macht. HerdersHerder, Johann G. Wertschätzung der kulturellen VielfaltVielfalt ist mit dem Lob partikularer Borniertheit verquickt. Aus olympischer, d.h. unbeteiligter Perspektive – Kulturtheorien wie jene HerdersHerder, Johann G. und später SpenglersSpengler, Oswald bevorzugen diesen narrativen Aussichtspunkt – mag es schon sein, dass der kulturelle Wettbewerb anspornt. Aber aus dem Blickfenster der singulären Kultur ist die glückselig machende Selbstgenügsamkeit mit der Exklusion erkauft, mit der realen („Ausländer raus“), aber auch mit der symbolischen in Gestalt jener diskriminierenden Fremdbilder, die im Deutschen den etwas missverständlichen Namen „Vorurteile“ tragen (so als handle es sich um einen vorschnellen Akt, der sich rational aufklären ließe).


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