Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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lässt: Philosophie, Soziologie und Kulturtheorie. SimmelSimmel, Georg beginnt seine Karriere als Philosoph in einem akademischen Milieu, in dem sich die Soziologie noch nicht etablieren konnte. Zudem hat seine jüdische Herkunft seinen akademischen Aufstieg überschattet, erschwert und verzögert, obschon die Vorlesungen des Privatdozenten in Berlin enormen Zulauf erfahren haben.

      Was SimmelSimmel, Georg jedoch fast lebenslang zum akademischen Außenseiter gemacht hat, ist seine assoziative, konkrete SpracheSprache, das Pendeln zwischen beobachtender Assoziation und eingehender Analyse, seine Abwehr des Deduktiven, seine induktive analytische Phantasie und Gesinnung. Nicht selten beginnt er mit unscheinbaren, geringfügigen, ‚irdisch‘-alltäglichen Dingen und Phänomenen. Oder anders formuliert: SimmelSimmel, Georg ist ungeachtet seiner enormen analytischen Schärfe kein Systematiker, sondern ein Essayist des Konkreten. Sowohl seine Themen (KunstKunst, Kunstwerk, GeldGeld, Phänomene wie BriefBrief, GeschlechtGeschlecht (Gender), Geschlecht-,, Geheimnis, Ruine, ModeMode) als auch seine Methode der genauen Beobachtung der Erscheinungen der modernenModerne, modern, -moderne Welt, „die Anknüpfung der Einzelheiten und Oberflächlichkeiten des LebensLeben, Lebens-, -leben an seine tiefsten und wesentlichsten Bewegungen“,1 machen ihn zu einem Vorläufer und Anreger der Kulturwissenschaften sowie zu einem der fruchtbarsten Kulturanalytiker.

      Ähnlich wie bei FreudFreud, Sigmund, sind seine expliziten Aussagen und Begriffsbestimmungen im Hinblick auf ‚Kultur‘ aus heutiger Sicht vergleichsweise traditionell, operieren sie doch nicht selten vonehmlich mit der binären Opposition von Kultur und NaturNatur, auch wenn er dabei betont, „daß Kultur und Natur nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen eines und desselben Geschehens sind“.2

      Das Innovative seiner Überlegungen kommt zumeist in seinen kleinen essayistischen Medaillons zum Vorschein, etwa in seiner Analyse von scheinbar nebensächlichen Gegenständen, Vorrichten und Artefakten wie dem Bilderrahmen, dem Henkel, dem Fenster, der Tür oder der Brücke, die allesamt einen Schlüssel zu SimmelsSimmel, Georg Verständnis von Kultur als einem prozessualen, relationalen und medialen Großphänomen beschreiben, das durch Mechanismen wie Öffnen und Schließen, durch Exklusion und Inklusion, durch mediale An- und Abwesenheit oder durch Kontextualität bestimmt ist.

      Zugleich und anders als viele traditionelle aber auch gegenwärtige Denker in diesem Feld ist SimmelSimmel, Georg einer der wichtigsten Theoretiker der ModerneModerne, modern, -moderne und ihrer ganz spezifischen kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben. Der Begriff der Modernität, der in den angelsächsischen Kulturstudien wie in den deutschen Kulturwissenschaften eher unterbelichtet geblieben ist, umfasst mehrere Bereiche, den gesellschaftlichen, den kulturellen und den philosophischen. Die zentrale Frage SimmelsSimmel, Georg lautet: Was macht diese moderne Kultur aus, was macht sie eigentlich so unvergleichlich?

      In gewisser Weise hat sein Kulturbegriff, der dezidiert über den engen Bereich der KunstKunst, Kunstwerk-Kultur hinausgeht (Kultur III → Kap. 1), Ähnlichkeiten mit jenem EliotsEliot, Thomas S. (der, wenn auch aus konservativer Perspektive, durchaus das Phänomen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur ins Auge fasst) und Raymond WilliamsWilliams, Raymond: Kultur bedeutet symbolische und reale Ausgestaltung der LebensweltLebenswelt, die sich in unverwechselbaren LebensstilenLebensstil manifestiert, die wiederum durch die moderne Welt geprägt sind – durch sich wechselseitig bedingende Phänomene wie GeldGeld, IndividualitätIndividualität, ModeMode und Rationalität.

      Georg SimmelSimmel, Georg (1858–1918) war – wie Ernst CassirerCassirer, Ernst – jüdischer Herkunft, ein Freigeist, ein Sammler; er unterhielt enge Beziehungen zum kulturkonservativen George-Kreis, war aber wohl selbst eher ein Liberaler und darüber hinaus ein keineswegs polemischer oder respektloser Kritiker des MarxismusMarxismus, marxistisch. Philosophisch steht er dem Neukantianismus und der PhänomenologiePhänomenologie nahe. Das lässt sich an den Leitmotiven seiner Kulturtheorie sehr gut demonstrieren: Dignität der einfachen DingeDinge. Schlüsselbegriffe seines Denkens sind ferner Begriffe wie FunktionFunktion, RelationRelation und Wert. SimmelSimmel, Georg hat auch als Erster jenes Phänomen beschrieben, das man in der Systemtheorie als AusdifferenzierungAusdifferenzierung, ausdifferenziert bezeichnet. Es besagt, dass moderne Gesellschaften, die in mancher Hinsicht kulturell womöglich homogener sind als vormoderneModerne, modern, -moderne (SpracheSprache, allgemeine BildungBildung), funktional besehen komplexer sind und im Verlauf ihrer Entwicklung immer neue gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Subsysteme mit eigenen Spielregeln hervorbringen. Die gegenwärtige Aktualität SimmelsSimmel, Georg hat freilich auch mit einer Haltung zu tun, die seit der PostmodernePostmoderne, postmodern nicht nur in intellektuellenIntellektueller, intellektuell Diskursen auffällt: AmbivalenzAmbivalenz. Dieser Terminus meint nicht einfach ein Sowohl-als-Auch, schon gar nicht eine bloße Kompromisshaltung, sondern eine Unentschiedenheit, die daher rührt, dass man sich einer Welt gegenüber sieht, deren produktive und problematische Aspekte nur zwei Seiten ein und derselben Sache sind. Zum Beispiel wird nicht selten, zumeist von konservativer Seite der Orientierungs- und WerteverlustWerteverlust in den modernen Zivilgesellschaften des Westens beklagt, aber zugleich ist dieser RelativismusRelativismus, relativ SimmelSimmel, Georg zufolge der Ausgangspunkt für unsere verhältnismäßig hohe Friedfertigkeit. SimmelsSimmel, Georg Radikalität als Kulturtheoretiker besteht gerade darin, an dieser Ambivalenz unbeirrbar festzuhalten. Sie bezeichnet die unmögliche dritte Position zwischen der Affirmation des Bestehenden und jenem pauschalen Unbehagen an der Kultur, das gerade in Deutschland – politisch rechts wie links – so prominent und prekär gewesen ist. Vor diesem Hintergrund ist jene IronieIronie zu verstehen, jener Vorbehalt gegenüber der Wirklichkeit, der diese vielleicht nicht vernichtet, aber doch relativiert. Georg SimmelsSimmel, Georg Theorie der modernen Kultur unterschlägt nicht den Preis, den wir für sie bezahlen.

      Die wichtigsten Arbeiten SimmelsSimmel, Georg sind in den letzten Jahren des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts entstanden. Das Verblüffende an ihnen ist, dass sie ungeachtet der zeitlichen Distanz, die wesentlichen Momente der modernenModerne, modern, -moderne liberalen, durch GeldGeld und Markt geprägten Kultur und die wichtigsten Vollzugslogiken unserer modernen LebensweiseLeben, Lebens-, -leben beschreiben. Sie lassen sich noch immer als eine theoretische Landkarte unserer Kultur lesen. Um diese erstaunliche Aktualität zu begreifen, braucht man nicht auf irgendeine Genialität zu verweisen, obschon SimmelsSimmel, Georg Originalität, sein Gespür für die inneren Befindlichkeiten und Verschiebungen in der modernen Kultur beeindruckend sind. Vielleicht als Erster hat er das Neue an dieser modernen Kultur des Geldes, die sich nach den historischen Krisen und Katastrophen (Erster Weltkrieg, StalinismusStalinismus, FaschismusFaschismus, NationalsozialismusNationalsozialismus) wieder etabliert und entwickelt hat, erfasst, zu einem Zeitpunkt, als dieses Neue noch wahrnehmbar gewesen ist. Heute fällt es uns schwer, diesen dramatischen Wandel überhaupt zu erfassen, den SimmelsSimmel, Georg Schriften so penibel beschreiben und analysieren. Aber noch jede postmodernePostmoderne, postmodern soziologische Analyse über die Erlebnis-, die Risiko- oder die Multioptionsgesellschaft3 argumentiert, explizit oder nicht, im Schatten Georg SimmelsSimmel, Georg. Im Rückblick lässt sich sogar behaupten, dass die von SimmelSimmel, Georg beschriebenen allgemeinen Tendenzen der modernen, durch das MediumMedium Geld gesteuerten Kultur erst heute voll zum Tragen kommen, unmittelbarer als zu seiner ZeitZeit, als die kulturellen Verhaltensmodalitäten aus vorangegangenen Zeiten noch nachwirkten und der LebensstilLebensstil nur an den urbanen ElitenElite, elitär der Zeit ablesbar waren. Der Untergang des ‚realen SozialismusSozialismus‘ hat entscheidend zur Beschleunigung der ökonomischen wie kulturellen Eigenlogik der HerrschaftHerrschaft des Geldes beigetragen.

      Die entscheidende Pointe von SimmelsSimmel, Georg Kulturtheorie besteht darin, dass er GeldGeld als kulturelles Phänomen und als MediumMedium, als ein Mittel begreift, das zwischen DingeDinge und Menschen tritt. Wobei dieses Medium nicht einer spezifischen, ethnischEthnie, ethnisch, religiösReligion, religiös oder sprachlich bestimmbaren Kultur (Kultur I → Kap. 1) zugeschrieben und auch nicht in seiner historischen Genese beleuchtet wird. Das Geld ist schlicht die Münzprägung einer voll entwickelten, kulturell scheinbar unspezifischen Modernität.

      SimmelSimmel, Georg untersucht das GeldGeld als ein ‚MediumMedium‘ des modernen LebensLeben, Lebens-, -leben, das nicht nur die Welt der Ökonomie bestimmt, sondern eine ganz spezifische Kultur beinhaltet. Er abstrahiert, anders als etwa VicoVico, Giambattista und HerderHerder,


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