Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
der Kultur wird, ist die Pointe von SimmelsSimmel, Georg Kulturtheorie.
Die moderneModerne, modern, -moderne WerbungWerbung zitiert diesen Sachverhalt, den SimmelSimmel, Georg als Erster genauer analysiert hat, tagtäglich: In der medialisierten Werbung ist dieser Abstand auch durch die traditionellerweise weiblichen Repräsentantinnen des Wertes gut sichtbar markiert. Im BildBild des lockenden Abstandes wird auch die Psychomotorik des Begehrens sichtbar: Der Abstand scheint nur da zu sein, um ihn zu überwinden. Mit dem Begriff des Abstandes liefert SimmelSimmel, Georg also einen Schlüssel zur PhänomenologiePhänomenologie des Begehrens: Abstand bedeutet einen Entzug, der das BegehrenBegehren erst in Gang setzt. Von SimmelsSimmel, Georg kulturellem MaterialismusMaterialismus aus betrachtet ist es also kein Zufall, dass die Kultur des GeldesGeld ihrer ganzen StrukturStruktur, strukturiert, strukturell nach ‚erotisch‘ ist. Denn Erotik meint ja keineswegs blinde Emotionalität oder Gefühlsseligkeit, sondern ein Spiel mit Abständen, in dem zweckrationale Strategien ersonnen werden, um den Abstand zu tilgen. BegehrenBegehren heißt also: das Glück der Überwindung. Von daher ist das Glück fragwürdig, das uns das märchenhafte oder auch kommunistische Schlaraffenland bietet, diese utopische Landschaft, in der sich uns alles aufdrängt. Zumindest entbehrt es des Vorhandenseins von BegehrenBegehren, das ohne die Erfahrung des bittersüßen Entzugs undenkbar ist. Unter den Bedingungen der Moderne ist es das Geld, das als kalkulierbares Zaubermittel fungiert.
Dieses Zaubermittel gebiert wiederum einen völlig neuen LebensstilLebensstil. GeldGeld ist, wie schon gesagt, nicht bloß ein ökonomischer, sondern ein kultureller Faktor, der die conditio humana formt, modelliert und konditioniert. Diese Modellierung bezeichnet SimmelSimmel, Georg im Geist seiner ZeitZeit als „Stil“. So hat SimmelSimmel, Georg den von NietzscheNietzsche, Friedrich adaptierten Begriff systematisch für die Analyse der Kultur entfaltet, der bis heute in der Soziologie aber auch in der Alltagssprache geläufig ist. Vermutlich ist LebensstilLebensstil die eleganteste Übertragung der englischen Wendung way of life, und T.S. EliotEliot, Thomas S., der argwöhnische Kulturkonservative, hatte wohl gleichfalls den modernenModerne, modern, -moderne LebensstilLebensstil im Sinn, als er seinen weit gefassten Begriff von Kultur (Kultur II) prägte (→ Kap. 1). Das Wort „Stil“ leitet sich vom lateinischen Wort stilum ab und meint eigentlich einen Griffel, ein mittlerweile längst verschwundenes Schreibwerkzeug, das Generationen von Schülerinnen und Schülern zum Schreiben auf eine Schiefertafel benutzt haben. In der heutigen Verwendung bezeichnet es eine ästhetische Formgebung, wofür wir heute gerne den englischen Begriff Design verwenden (von lat. designare bezeichnen, mit einem Zeichen versehen). Aber es gibt da doch einen entscheidenden Unterschied. Im Begriff des Stils steckt eine positive Aufladung. Wenn der Mensch nämlich Stil ist, dann ist es der Stil, der einen zum Menschen macht. Wenn einem Mann oder einer Frau Stil zugeschrieben wird, dann ist das keine neutrale Beschreibung, die trivial ist, weil ja jeder irgendwie einen LebensstilLebensstil hat, sondern schließt ähnlich wie beim Menschen, der Kultur besitzt, die Wertschätzung mit ein. Der expressionistische Lyriker und NietzscheNietzsche, Friedrich-Schüler Gottfried Benn, der zeitlebens die Stillosigkeit seiner Landsleute beklagt hat, hat sich zu der Aussage verstiegen, im Zusammenhang mit dem FaschismusFaschismus von „RasseRassismus, Rasse mit Stil“ zu sprechen.12
Auffällig ist, dass SimmelSimmel, Georg, von einer Leidenschaft nüchterner Neugierde getrieben, den Begriff Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben (SimmelSimmel, Georg verwendet zunächst diese Bezeichnung für LebensstilLebensstil) in einem völlig neutralen Sinn verwendet. Unklar bleibt auch, wer da formt, der Mensch oder die selbstläufig gewordenen kulturellen Kräfte, die er entbunden hat, allen voran das GeldGeld. Dieses bringt nämlich eine spezifische Form des LebensstilsLeben, Lebens-, -leben hervor. Aber eigentlich ist das Phänomen des LebensstilsLeben, Lebens-, -leben selbst – so wie das Phänomen der ModeMode – neu. Es hat auf den ersten Blick keinen Sinn, vom LebensstilLebensstil der antiken Griechen, der Mayas oder der Menschen im MittelalterMittelalter zu sprechen. LebensstilLebensstil bedeutet nämlich ein ästhetisches Verständnis und Selbstverständnis des Menschen, das vor der ModerneModerne, modern, -moderne einigermaßen fremd war. SimmelSimmel, Georg beschreibt verschiedene zentrale, für den modernen Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben charakteristische Merkmale:
1 Der LebensstilLebensstil hat keine ‚Tiefe‘, keine Authentizität, er ist arbiträrArbitrarität, arbiträr und „charakterlos“. Arbiträr, vom lateinischen arbitrari, glauben, meinen abgeleitet, verweist auf die Tatsache, dass unser LebensstilLebensstil einigermaßen willkürlich gesetzt ist und zum Teil auch so verstanden wird. Er resultiert nicht länger aus der Befolgung heiliger, von göttlichen Instanzen eingesetzter Regeln, Geboten, Verboten, Vorschriften. Charakterlos meint auch, dass dieser LebensstilLebensstil sich ändern kann und dass ihm gegenüber kein Treuegebot gilt. Ein 68er Linker, ein Punk oder eine Grün-Alternative muss seinen bzw. ihren LebensstilLebensstil nicht das ganze LebenLeben, Lebens-, -leben hindurch tragen, er/sie kann ihn ändern, ohne irgendwelche Sanktionen befürchten zu müssen und ohne dass ihm/ihr Schuldgefühle nahegelegt werden.
Die Pluralität der heutigen Lebensstile lässt sich als Auswirkung der Vorläufigkeit modernerModerne, modern, -moderne Existenz begreifen. Ihr offenkundiger Mangel, ihre Unverbindlichkeit und geringe soziale Bindekraft erzeugt, verschärft durch das Abgrenzungsbedürfnis der nachfolgenden Generationen, immer neue Lebensstile, die strukturellStruktur, strukturiert, strukturell verblüffend ähnlich sind.
In diesen Zuschreibungen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur des GeldesGeld treten Phänomene zutage, die man seit den 1980er Jahren gern als postmodern bezeichnet: eine Form von Selbstzuschreibung, die kontingentKontingenz, kontingent, das heißt zufällig und nicht zwingend ist. Damit steht der moderne LebensstilLebensstil im krassen Gegensatz zur klassischen ‚Persönlichkeit‘ des 18. und 19. Jahrhunderts, deren zentrales Bestreben die Entdeckung und Entfaltung des wahren Selbst ist.
1 Der moderneModerne, modern, -moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben ist durch das Primat des Verstandes geprägt: Das BegehrenBegehren eines Menschen nach einem bestimmten Produkt mag subjektivSubjektivität, subjektiv, unvernünftig, ja sogar irrational sein, aber die Art und Weise, es in seinen Besitz zu bekommen, ist zweckrational. Das ist, wie SimmelSimmel, Georg ausführt, die Folge des „Mittelcharakters des GeldesGeld“. Das Geld ist ein MediumMedium, es tritt dazwischen. Aber das Dazwischentreten des Geldes hat weitreichende Folgen, für den Einzelnen wie für die Kultur. Das BegehrenBegehren wird aufgeschoben. Es entsteht eine lange Reihe von Mitteln und Zwecken. Das strategische Denken wird zur vorherrschenden Mentalität unseres kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich LebensLeben, Lebens-, -leben. Das Geld wird zum Mittel der Gestaltung unseres Willens im KontextKontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, die wiederum durch die Verbindung zwischen subjektivem Willen und absolutem Werkzeug geschaffen werden. Durch das Medium Geld tritt das Prozesshafte der Kultur vollends zutage.13
Aber damit modifiziert sich der Wille als solcher, er rationalisiert sich durch die Beziehung zum Mittel, dessen er sich zur Durchsetzung bedient. Der Wille ist, bemerkt SimmelSimmel, Georg an einer Stelle, blind wie der des „geblendeten Cyclopen“, der „aufs Geratewohl losstürmt“14. Was ihm fehlt, ist ein Inhalt, ein Zweck und die strategische Wahl der Mittel. Woran es ihm mangelt, ist, um die Anspielung aus der Odyssee aufzugreifen, die List des Odysseus, die HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. in ihrer Lesart des Homerischen Epos kulturkritisch und antikapitalistisch wenden werden (→ Kap. 6).
Der moderneModerne, modern, -moderne LebensstilLebensstil ist subjektivSubjektivität, subjektiv, begehrlich und zugleich rational-strategisch. Er impliziert ein Zurückdrängen all jener Bereiche, die man als Gemüt und Gefühl bezeichnet. In der Umgangssprache werden sie mit dem Begriff des Romantischen belegt. Zur Veranschaulichung sei hier ein Beispiel aus der österreichischen Literatur zitiert, der erste Roman von BrochsBroch, Hermann Trilogie Die Schlafwandler. Er trägt den Titel Pasenow oder Die RomantikRomantik. Der romantische junge Pasenow, der für eine junge Varietéschauspielerin und Halbweltdame entflammt ist und am Ende die standesgemäße Nachbarstochter ehelicht, verkörpert einen untergehenden Typus, für den noch alles in OrdnungOrdnung, ordnungs- ist und in Ordnung aufgeht. Demgegenüber verkörpert sein liberaler und melancholischer, unternehmerischer Jugendfreund den neuen rastlosen urbanen