Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
bei Werner SombartSombart, Werner – ausschließen.18
Hinter SimmelsSimmel, Georg Argument steckt aber indirekt eine wichtige These, nämlich die Auffassung, dass Emotionen eine wichtige Rolle für die eigene Selbstversicherung spielen. Die vorbehaltliche und provisorische IdentitätIdentität und die Abkühlung der eigenen Emotionen bedingen einander. Auf paradoxe Weise hat – so wenigstens das SelbstbildSelbstbild – der emotional distanzierte Mensch ohne fixe Identität eine weit höhere Verfügungsgewalt über sich selbst als der Mensch, der aus seinen Emotionen eine starke Identität bezieht, aber diesen zugleich ausgeliefert ist. Ihm ist der Kompromiss wesensmäßig fremd. Demgegenüber attestiert SimmelSimmel, Georg dem charakterlosen Menschen der Geldkultur eine „Tendenz zur Versöhnlichkeit“.19 Das hängt mit einer weiteren Facette seiner kollektiven Disposition zusammen, die man heute als IndifferenzIndifferenz bezeichnet, als GleichgültigkeitGleichgültigkeit. SimmelSimmel, Georg bescheinigt dem Menschen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur „Gleichgültigkeit gegenüber den Grundfragen des Innenlebens“,20 damit aber auch eine Gleichgültigkeit sich selbst und dem anderen gegenüber. Diese Gleichgültigkeit hat mehrere Aspekte. Zunächst einmal bedeutet die Gleichgültigkeit positiv gesehen, dass mein Gegenüber, ungeachtet seiner Herkunft und seines GeschlechtsGeschlecht (Gender), Geschlecht-,, gleich gültig ist, seine Besonderheit interessiert mich nicht weiter. GeldGeld ist ein radikaler leveller, hat MarxMarx, Karl einmal attestiert.21 Etwas von dieser Gleichgültigkeit des Geldes ist in die modernen zwischenmenschlichen Beziehungen eingeschrieben. Was übrigens nicht bedeutet, dass in dieser Kultur der Einzelne gänzlich wertlos wäre, ganz im Gegenteil. Vielleicht lässt sich zur Illustration für diese kulturelle Befindlichkeit noch ein weiterer berühmter Autor aufrufen, nämlich Milan KunderaKundera, Milan, der die geniale Formel von der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ zum Titel seines wohl prominentesten Romans gemacht hat. Um sich leichtfüßig zu bewegen, muss man möglichst viel Ballast abwerfen, die Schwere des Gefühls, der Metaphysik, der eigenen Person. Freilich legt allein schon der Romantitel nahe, dass diese Leichtigkeit am Ende unerträglich sein könnte und – mit SimmelSimmel, Georg gesprochen – das BegehrenBegehren nach Schwere auslöst.22
Programmatisch und selbstbildhaft bleibt hingegen die unpersönliche Sachlichkeit, wie sie uns aus unzähligen Stellenausschreibungen, den medialen Manifestationen des ökonomischen Bereichs aus Karrierebeschreibungen oder aus medialen RepräsentationenRepräsentation als Ausweis von Professionalität entgegenschlägt. Es handelt sich dabei um eine Form von Moderatheit, die durch das GeldGeld ‚moderiert‘ wird. Wenn SimmelSimmel, Georg in diesem Zusammenhang von der „Objektivitätobjektiv, Objektiv- dieser Lebensverfassung“23 spricht, dann meint er nicht, dass die moderneModerne, modern, -moderne Kultur ein stabiles ‚objektives‘ Fundament besitzt, sondern vielmehr, dass die Welt der durch das Geld vermittelten DingeDinge und Einrichtungen eine Objektivitätobjektiv, Objektiv- erzeugt, an die wir uns in unserem Verhalten gleichsam anschmiegen. Das Geld etabliert insofern eine Art von leerer Objektivitätobjektiv, Objektiv-, indem es Sachzwänge schafft, denen wir uns nicht nur fügen, sondern die wir in unserem Verhalten verinnerlichen. Kultur ist jener wundersame Bereich, in dem es nicht um Verbote und Repression geht, wie im Feld von PolitikPolitik und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, sondern um die Frage der Selbstkonditionierung, einer Form von mehr oder weniger unbewusstunbewusst verlaufender kultureller SozialisationSozialisation, die, wie Pierre BourdieuBourdieu, Pierre gezeigt hat, viel effektiver ist als der schiere Zwang, die bloße Repression, die schlichte Gewalt (→ Kap. 9).
Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die inneren, ‚unsichtbaren‘ Tendenzen des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben sagen, dass das GeldGeld kulturell betrachtet ein janusköpfiges Phänomen darstellt. Es ermöglicht die Präsenz des IndividuumsIndividuum um den Preis seiner rigorosen Selbstbeschneidung. Im Gegensatz zum üblichen Binarismus – hier Individualismus, dort Kollektivismus – geht SimmelSimmel, Georg davon aus, dass der moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben sowohl individualistisch als auch kollektivistisch ist.
Das GeldGeld ist, wie sein theoretischer Reflex, die rationalistische Weltauffassung, eine SchuleSchule des neuzeitlichen Egoismus und des rücksichtslosen Durchsetzens von IndividualitätIndividualität gegen die traditionellen Mächte der Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang prägt SimmelSimmel, Georg die paradoxe Formel von der „Majorisierung des Einzelnen“. Das Geld besitzt eine individualistische Komponente: Es ‚objektiviert‘ zwar die „impulsiv-subjektivistischeSubjektivismus, subjektivistisch“ „in überpersönliche und sachlich normierte Verfahrungsweisen“, aber es gibt dem Einzelnen überlegene Strategien an die Hand, seinen Willen und seine Ziele durchzusetzen. Der „kommunistische“ Charakter des Geldes, den SimmelSimmel, Georg ironisch, aber zugleich ganz ernst gemeint, gegen den SozialismusSozialismus seiner ZeitZeit setzt, ergibt sich hingegen aus dem „nivellierten“ Charakter des Geldes, für das alles gleichgültig (im Doppelsinn des Wortes) und allgemein mitteilbar ist. Das Geld macht alles theoretisch für alle zugänglich, es ist „allgemein mittelbar“.24
Andy WarholWarhol, Andy, ein praktischer Soziologe mit künstlerischen Mitteln, hat dies ganz ähnlich gesehen wie SimmelSimmel, Georg. Er hat sich mit massenwirksamen Symbolen beschäftigt, so auch mit Hammer und Sichel, dem SymbolSymbol des offiziellen marxistischenMarxismus, marxistisch KommunismusKommunismus. Diesem hat er die Cola-Flasche gegenübergestellt, die er – so ironisch wie unironisch – als ein unsentimentales SymbolSymbol einer demokratischenDemokratie, demokratisch PopularkulturPopularkultur gefeiert hat: Jeder, auch die Queen trinkt Coca Cola, textet WarholWarhol, Andy in seiner Hommage auf den KommunismusKommunismus der verallgemeinerten Geldkultur, jeder trinkt unabhängig von Herkunft, GeschlechtGeschlecht (Gender), Geschlecht-, und KlasseKlasse Coca Cola.25
Die Geldkultur ist, wenn man sie seitlich anleuchtet, also durchaus attraktiv, gerade weil sie individualistische und ‚kommunistische‘, d.h. egalitäre Momente miteinander verknüpft. Nicht, weil die USA der mächtigste Staat dieser Welt sind, sondern weil die Vereinigten Staaten diesen Kommunismus des GeldesKommunismus (des Geldes)Geld – mit all seinen Facetten – perfekt zu verkörpern scheinen (denn die gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Realität dürfte sich von diesem Selbst- und FremdbildFremdbild unterscheiden), ist Amerika, ungeachtet eines weltweiten Anti-Amerikanismus, jene Kultur des Westens, die noch immer die mächtigste Anziehungskraft auf breite Schichten der außeramerikanischen Welt ausübt, eben weil sie beides verspricht, IndividualitätIndividualität und egalitären Konformismus.
Aus diesen beiden gegenläufigen Momenten ergibt sich eine weitere Form des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben, der Atomismus der modernen GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich. Die Masse tritt in dieser Kultur höchst selten in geballter Form, als Mega-KörperKörper, körperlich auf, wie es die diversen MassentheorienMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- marxistischer, psychoanalytischer und kulturanthropologischer Provenienz dargelegt haben, sondern zumeist handelt es sich um eine virtuelle Masse, in der jeder für sich allein ist:
Die Allgemeingültigkeit der Intellektualität ihren Inhalten nach wirkt, indem sie für jede individuelleindividuell Intelligenz gilt, auf eine Atomisierung der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich hin, sowohl vermittels ihrer wie von ihr aus gesehen erscheint jeder als ein in sich geschlossenes Element neben jedem anderen, ohne dass diese abstrakte Allgemeinheit irgendwie in die konkrete überginge, in der der Einzelne erst mit den anderen zusammen eine Einheit bildete.26
SimmelSimmel, Georg zählt weitere Charakteristika auf, die mit den oben beschriebenen Tendenzen direkt zusammenhängen. Für den heutigen Leser ist die Mischung aus Vertrautem und Befremdlichem verblüffend. So spricht SimmelSimmel, Georg von der modernenModerne, modern, -moderne Kultur als einer Kultur des Messens, was sich im Umgang mit GeldGeld aber auch mit ZeitZeit sinnfällig demonstriert. In der modernen Kultur dominiert das Phänomen der Verflüssigung, des Prozessualen, demgegenüber das Statische und das Produkt zurücktreten. SimmelSimmel, Georg zufolge handelt es sich dabei um eine „Verdichtung der rein formalen Kulturenergie, die jedem beliebigen Inhalt zugeordnet werden kann“.
Ziehen wir eine erste Zwischenbilanz, so lässt sich sagen, dass SimmelsSimmel, Georg Analyse in der Tat einem kulturellen MaterialismusMaterialismus verpflichtet ist, der bestimmte Denkformen, Haltungen und