Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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Perspektive wird unabweislich, dass wir nicht nur in einer Welt falschen BewusstseinsBewusstsein, falsches, sondern in einer verkehrten Welt leben. Aber damit verengt sich auch jedwede Möglichkeit des politischen Eingriffs, denn das Proletariat, der historische Hoffnungsanker des klassischen Marxismus, ist in denselben kulturellen Verblendungszusammenhang eingesponnen wie alle anderen Bewohner dieses ökonomischen und symbolischen Gefängnisses. Lediglich Autoren wie KafkaKafka, Franz und BeckettBeckett, Samuel, die – so die Interpretation AdornosAdorno, Theodor W. – diese totalitäre und unentrinnbare Kultur als den Ort menschlicher Verzweiflung beschrieben haben, sind imstande, diese Verblendung zu durchbrechen. AdornosAdorno, Theodor W. Blick in die Welt der modernenModerne, modern, -moderne Kultur ist schwärzer als der, der durch PlatonsPlaton Höhlengleichnis, einer zentralen ErzählungErzählung(en) abendländischer Philosophie, vorgegeben ist.3 Denn hier leben die Menschen noch in einem Schattentheater, wobei die Schatten so etwas wie den Abglanz des Wahren darstellen.

      Insbesondere bei AdornoAdorno, Theodor W. ist das Ganze der Wahrheit fragmentiert und zertrümmert. Sein Blick auf die Welt der modernenModerne, modern, -moderne Kultur ähnelt strukturellStruktur, strukturiert, strukturell dem der Gnosis. Der Gnostiker weiß, dass er in einer falschen, dämonischen Welt lebt, sie ist das Werk eines falschen Gottes, aber es glimmt in ihm, dem gnostischen Menschen, ein Fünkchen der wahren Welt, die er wie einen Schatz in sich trägt. Er lebt in dem BewusstseinBewusstsein, bewusst, dass seine wahre Heimat ganz woanders ist.4 Jene AdornosAdorno, Theodor W. liegt in der klassischen Moderne, die sich – so die Deutung AdornosAdorno, Theodor W. – bewusst von der Welt abwendet.

      In der Kritischen TheorieKritische Theorie verschwimmen die Grenzen zwischen den Termini Kultur und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich. Das hängt nicht zuletzt mit dem marxistischenMarxismus, marxistisch Erbe zusammen, das die Kritische Theorie verschoben und mehr oder weniger durch Anleihen bei der PsychoanalysePsychoanalyse erweitert hat. Schon seit den 1930er Jahren galt das Interesse HorkheimersHorkheimer, Max, AdornosAdorno, Theodor W., FrommsFromm, Erich oder MarcusesMarcuse, Herbert nicht so sehr der Analyse der ökonomischen Verhältnisse, aber diese werden nichtsdestotrotz als omnipräsent gesehen. Sie haben eine direkte und eine indirekte Wirkung auf die Kultur, direkt durch die MachtMacht des Ökonomischen, indirekt durch eine Form von Vernunft, die alle DingeDinge dieser Welt zum Mittel der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Verwertung macht. HorkheimerHorkheimer, Max wird sie später als instrumentelle Vernunft bezeichnen. Entscheidend für die Verblendung der Welt ist aber jenes Phänomen, das MarxMarx, Karl in Anlehnung an die Ethnologie als FetischcharakterFetisch(ismus), Fetischcharakter der Ware bezeichnet hat, als ein strukturellStruktur, strukturiert, strukturell falsches BewusstseinBewusstsein, falsches: Die in Waren und Geldwert verwandelten Dinge sind wie magisch aufgeladen und die Verhältnisse, die die Menschen letztendlich ja selbst geschaffen haben, erscheinen ihnen als eine Bewegung magischer Dinge. Die Kritik richtet sich also auf zwei Momente:

       auf das kollektiv falsche BewusstseinBewusstsein, bewusst, das sich in allen Bereichen, insbesondere in der Kultur, den Wissenschaften und in den MedienMedien, Medien-, -medien, medien- niederschlägt,

       auf eine Form von totaler MachtMacht und Beherrschung, der die Menschen ausgeliefert sind.

      Zielt die erste Kritik also auf unsere kulturelle Befindlichkeit (Kultur II) und auf den Kulturbetrieb (Kultur III), so ist die zweite gegen das Gesamtsystem der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich gerichtet, wobei HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. insbesondere in der DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs- auch auf das Spezifische der westlich-abendländischenAbendland, abendländisch Kultur eingehen und ihre Kulturkritik bewusst jener von SpenglerSpengler, Oswald und Klages5 entgegenstellen (Kultur I → Kap. 1).

      Lange vor FoucaultFoucault, Michel (→ Kap. 8) haben AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max, wenn auch, etwa im Vergleich zu FoucaultFoucault, Michel, einigermaßen unsystematisch, den Gedanken formuliert, dass das Denken selbst machtförmig ist. Analytische Philosophie und die gängigen Sozialwissenschaften reproduzieren das verdinglichte BewusstseinBewusstsein, bewusst, insofern sie die GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich in ihrer scheinhaften Objektivitätobjektiv, Objektiv- unhinterfragt als gegeben annehmen.

      Sie exemplifizieren dies auch in ihrer Kritik an der HegelHegel, Georg W.F.’schen Philosophie, die das Besondere stets dem Allgemeinen unterstellt. Hier wird ein MachtMacht- und Unterwerfungsverhältnis festgelegt, das auch in anderen Bereichen der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich wirksam ist. Diese Machtförmigkeit traditionellen Denkens lässt sich nur unterlaufen, indem man das Besondere aus seiner HerrschaftHerrschaft mit dem Allgemeinen, seiner falschen IdentitätIdentität mit ihm befreit. AdornosAdorno, Theodor W. Essayismus,6 sein Sprachdenkstil wie seine Denkweise, ist von der Strategie durchdrungen, das Besondere in DifferenzDifferenz zum Allgemeinen zu setzen. Systeme und Begriffe sind wie eine Armee von Soldaten, hat Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich einmal formuliert: „Ein Regiment Soldaten en parade ist nach der Denkart mancher Philosophen ein System.“7

      Man muss – so lautet die Denkstrategie der Kritischen TheorieKritische Theorie – das Denken gleichsam entwaffnen. Damit ist eine Einsicht formuliert, die heute nicht laut aber doch vernehmlich den DiskursDiskurs im Bereich der Human- bzw. Kulturwissenschaften bestimmt: Es geht nicht nur um neue Inhalte, sondern auch um neue Formen des Denkens, die das prekäre Verhältnis von Begriff und Gegenstand sprachlich, rhetorisch und gedanklich reflektieren.

      Mit diesem Befund befinden wir uns schon ganz in der Nähe jenes Werkes, das bis heute einen wichtigen Stellenwert in verschiedensten Diskursen einnimmt: HorkheimersHorkheimer, Max und AdornosAdorno, Theodor W. Gemeinschaftswerk Die DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs-, das vor dem Hintergrund des nahen Kriegsendes eine düstere Gesamtbilanz der Aufklärung und der abendländischenAbendland, abendländisch Denkweise (episteme) zieht. Das Werk ist fragmentarisch in einem doppelten Sinn. Der letzte Teil ist bruchstückhaft geblieben, eine Sammlung aus Aphorismen und Marginalien. Aber das Fragmentarisch-Ausschnitthafte ist zugleich Programm eines Werkes, das gegen die Idee des geschlossenen Werkes gerichtet ist. Das BuchBuch (als Medium) kulminiert in einer Kritik an den Wissenschaften; deren GlaubenGlaube an die Begrifflichkeit der SpracheSprache wird in kritischer Volte gegen BaconsBacon, Francis berühmten Satz Wissen ist MachtMacht als mythisch und machtförmig denunziert. Im zweiten Teil wird Odysseus als ArchetypArchetyp bürgerlicher Vernunft beschrieben, dessen List darin besteht, alles zum Mittel der Durchsetzung seines strategischen Kalküls zu machen. Höhepunkt dieser Analyse ist der kritische Kommentar zum Abenteuer Odysseus‘ und seiner Gefolgsleute mit dem einäugigen Riesen Polyphem. Der einäugige Riese ist der monströse Fremde, ein Hirngespinst der griechischen Eindringlinge, ein symbolisches Produkt aus deren Welt. Polyphem verkörpert den unterdrückten Autochthonen, den die beiden Autoren in die Nähe des modernenModerne, modern, -moderne OpfersOpfer der neuzeitlichen Kolonisation rücken. Mit Seitenblick auf SimmelSimmel, Georg (→ Kap. 5) ließe sich sagen, dass Polyphem seinem BegehrenBegehren blind ausgeliefert ist, er kann dieses nicht rational geltend machen, ganz im Gegensatz zu Odysseus, der ihn durch sein intellektuellesIntellektueller, intellektuell Kalkül überrumpelt und blendet. Odysseus‘ List deckt sich weithin mit dem strategischen Kalkül, das SimmelSimmel, Georg dem Menschen der modernen Geldkultur zugeschrieben hat. Die beiden philosophischen Interpreten bürsten HomersHomer Epos gewissermaßen gegen den Strich und drehen die Perspektive um; sie nehmen Partei für den schmählich Unterworfenen und Getäuschten, der sich womöglich nur aus dem hochmütigen und herablassenden Blick des griechischen Herrn so hässlich und monströs ausnimmt. Insofern lässt sich dieses Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung auch als ein hochkarätiger Beitrag zu einer Theorie des KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert und PostkolonialismusPostkolonialismus, postkolonial (→ Kap. 12) lesen. Schon in HomersHomer Epos wird, AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max zufolge, die Auseinandersetzung zwischen Odysseus und Polyphem unter dem Gegensatz zwischen ZivilisationZivilisation und BarbareiBarbar, Barbarei gefasst. Der Riese Polyphem trägt „das rädergroße Auge“ „als Spur […] der Vorwelt“.8 Die Primitivität des AnderenAndere(r), der, die, das, des Menschenfressers, seine Gesetzlosigkeit liefert die Legitimation dafür, ihm Gewalt anzutun. Die für sich reklamierte zivilisatorische Überlegenheit


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