Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
-moderne Menschen.
Diese Widersetzlichkeit schafft dem modernenModerne, modern, -moderne Menschen einen inneren Freiraum, eine Nische.
Gerade durch diese Distanzierung wird „unter günstigen Bedingungen“ „eine Reserve des Subjektiven, eine Heimlichkeit und Abgeschlossenheit des persönlichen Seins“ möglich, eine SubjektivitätSachregisterSubjektivität, subjektiv, die an den religiösenReligion, religiös LebensstilLebensstil früherer ZeitenZeit erinnert, eben dadurch, dass das GeldGeld den modernenModerne, modern, -moderne Menschen die DingeDinge vom Leib hält sowie die „Beherrschung und Auswahl des uns Zusagenden unendlich erleichtert“.33 So führt uns SimmelSimmel, Georg in eigener Person und Sache die Zwiegespaltenheit des modernen Menschen vor.
Mit dem modernenModerne, modern, -moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben eng verwandt ist die ModeMode. Sie ist die adäquate Form der Präsentation und RepräsentationRepräsentation des modernen LebensstilsLeben, Lebens-, -leben, indem sie auf geniale Weise konformistisches Verhalten und individualistische Verfügung miteinander verschränkt. Die Mode repräsentiert dabei nicht nur einen bestimmten kulturellen oder gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Bereich des LebensLeben, Lebens-, -leben, sondern sie ist ein Prinzip, das in alle Bereiche der modernen „nervösen“34 Kultur eindringt. Sie basiert auf der modernen Lebensstilkultur, in der „[…] die großen, dauernden, unfraglichen Überzeugungen mehr und mehr an Kraft verlieren“.35 Sie verkoppelt zwei entscheidende Momente, das (traditionelle) Moment der NachahmungNachahmung mit jenem der Originalität: Der Reiz der Nachahmung besteht darin, dass
[…] sie uns ein zweckmäßiges und sinnvolles Tun auch da ermöglicht, wo nichts Persönliches und Schöpferisches auf den Plan tritt. Man möchte sie das Kind des Gedankens mit der Gedankenlosigkeit nennen. Sie gibt dem IndividuumIndividuum die Beruhigung, bei seinem Handeln nicht allein zu stehen, sondern erhebt sich über den bisherigen Ausübungen derselben Tätigkeit wie auf einem festen Unterbau, der die jetzige von der Schwierigkeit, sich selbst zu tragen, entlastet.36
Der Akzent liegt dabei auf dem „Bleibenden im Wechsel“.37 Für den modernenModerne, modern, -moderne Menschen ist IndividualitätIndividualität ein hohes Gut. Eine solche IdentitätIdentität als IndividuumIndividuum erfordert die fortgesetzte Produktion von DifferenzDifferenz, die für das Phänomen Kultur so charakteristisch ist. Bloße, sichtbare NachahmungNachahmung ist im Fall der individuellenindividuell DifferenzierungDifferenzierung, „des Sich-abhebens von der Allgemeinheit“ kontraproduktiv. Es ist, wie SimmelSimmel, Georg sich ausdrückt, „das [zu] negierende und hemmende Prinzip“. Die ModeMode, die die Setzung von Differenz verspricht, versöhnt zwei DingeDinge, die ansonsten unversöhnlich aufeinander treffen:
den Konformismus und die Sehnsucht nach Verbindung: „bei dem Gegebenen zu verharren und das Gleiche zu tun und zu sein wie die anderen“,
das Bedürfnis nach Originalität und Neuerung und die Sehnsucht nach Absonderung und Trennung „zu neuen und eigenen LebensformenLeben, Lebens-, -leben voranschreiten“.38
Die ModeMode ist nun beides. Sie ist die Durchbrechung des bisher Gültigen (DifferenzDifferenz), aber im Gefolge einer vorgegebenen Richtung (NachahmungNachahmung). Ihr Vollzug ist immer ein individueller und das heißt auch – wenigstens formell – ein freiwilliger:
Die LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben der ModeMode als einer durchgängigen Erscheinung in der GeschichteGeschichte unserer Gattung sind hiermit umschrieben. Sie ist NachahmungNachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, sie führt den Einzelnen auf die Bahn, die Alle gehen, sie gibt ein Allgemeines, das das Verhalten jedes Einzelnen zu einem bloßen Beispiel macht. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf DifferenzierungDifferenzierung, Abwechslung, das Sich-abheben.39
Die Exponiertheit ist immer eine relativeRelativismus, relativ, die mindestens von einer Gruppe von Menschen getragen wird, die zur neuen ModeMode entschlossen ist:
Die Aufgeblasenheit des Modenarren ist so die Karikatur einer durch die DemokratieDemokratie, demokratisch begünstigten Konstellation des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit.40
Die ModeMode ermöglicht einen „sozialen Gehorsam“, der zugleich „individuelleindividuell DifferenzierungDifferenzierung“ ist. Die Menschen fügen sich in ein kulturelles Muster ein, ohne dass dazu Befehl und Gehorsam vonnöten wäre. Diese kongeniale Überbrückung der feindlichen Gegensätze gelingt der Mode durch:
den unbekümmerten Umgang mit Inhalten, Motiven und Überzeugungen,
durch ihren zeitlichen – transitorischen – Charakter: „Das Wesen der ModeMode besteht darin, dass immer nur ein Teil der Gruppe sie übt […]“ – wenn die Mehrheit auf den Geschmack der jüngsten Mode einschwenkt, ist die Mode längst weiter,
durch ihre „völlige GleichgültigkeitGleichgültigkeit gegen die sachlichen Normen des LebensLeben, Lebens-, -leben“.41
In ihrem Hang zum Hässlichen und Extravaganten dokumentiert die ModeMode sowohl diese IndifferenzIndifferenz als auch den vermeintlichen Wagemut gegenüber den anderen. Zugleich aber schützt die Mode noch den extravagantesten Auftritt vor dem peinlichen Reflex, den das Ich potenziell bei der Zurschaustellung seiner/ihrer selbst erleidet: der Scham. Ich muss mich nicht schämen, weil es alle anderen – auch – tun. Ich muss mich nicht rechtfertigen, ein Lacanianer, eine Poststrukturalistin oder ein Kulturwissenschaftler zu sein, denn es gibt andere, ich bin Teil eines Trends, einer Mode, die mich schützt. Das gilt übrigens auch für das scheinbare und schiere Gegenteil von Bekleidung: die Nacktheit, die sich als Aura des Natürlichen oder der sexuellenSexuelle, das, sexuell Befreiung seit der letzten Jahrhundertwende großer Beliebtheit erfreut. So ist das Nacktbaden am mediterranen Nudistenstrand (wo es von der ansässigen Bevölkerung bestenfalls toleriert wird, was den Reiz, anders zu sein, beträchtlich erhöht) oder in der Wiener Lobau eine Mode der longe durée, der ich mich anschließen kann (oder nicht), womit sich der Anschluss an eine kulturelle Gruppe eröffnet, die sich als progressiv und sexuell nicht prüde begreift.
Sehr viel riskanter ist es hingegen, gegen den Strom zu schwimmen, etwa als Lehrende oder als Studierender an heißen Sommertagen nackt die Universität zu betreten, denn dafür gibt es bislang keinen Modetrend. Solange diese Einschränkungen wirksam sind, ist – vom Nudistenreservat abgesehen – die Provokation des nackten KörpersKörper, körperlich wirksam, ob in aktionistischen Opern- und Theaterinszenierungen oder als politische Provokation wie weiland an der Frankfurter Universität in den ZeitenZeit der Studentenbewegung, wo durch die Entblößung des Oberkörpers durch weibliche Studierende (en groupe) dem betroffenen Meisterphilosophen T.W. AdornoAdorno, Theodor W. seine mangelnde politische Radikalität und sein traditionelles Frauenbild buchstäblich durch die Präsentation entblößter weiblicher Oberkörper vorgeführt wurde.
Wo die Welt der ModeMode aufhört, beginnt die Welt des riskanten Einsatzes. Das gilt übrigens nicht bloß für die Mode, für Autos, für Architektur, sondern auch für das Denken und die KunstKunst, Kunstwerk. Heute sind die Grenzen zwischen den sogenannten Transavantgarden und der Mode sichtbar fließend geworden. Auch der akademische Betrieb unterliegt mittlerweile diversen Moden. Nicht nur, dass Denkschulen kommen und gehen. Wenn der Einsatz des Computers zum Ausweis von Modernität wird, dann wird die Power-Point-Präsentation zur soziokulturellen Pflicht, unabhängig davon, ob sie medial stimmig ist oder nicht. Sobald dies aber alle Lehrenden tun, verliert die Verwendung des Computers ihren spezifisch luxurierenden Nutzen. Mit dem Einsatz des digitalen Geräts ist nunmehr kein Differenzgewinn zu erzielen. Ähnliches gilt auch für das Denken selbst: Wenn ein innovativesInnovation, innovativ Denken zum AlltagAlltag, Alltagskultur, Alltags- geworden ist, verblasst sein Glanz des Besonderen, das sich abhebt von all den anderen denkmodischen Langeweilern.
Der im Vergleich zu SimmelsSimmel, Georg ZeitZeit heute überwältigende PluralismusPluralismus, pluralistisch der ModenMode und der unterschiedlichen medialen Formate und Inszenierungen in allen Bereichen von Kultur und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich modifiziert das kulturelle Großphänomen Mode, ist aber letztendlich nur die logische