Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
MaterialismusMaterialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, dass der Einbeziehung des wirtschaftlichen LebensLeben, Lebens-, -leben in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden.5
Mit dem Terminus historischer MaterialismusMaterialismus ist hier die marxistischeMarxismus, marxistisch Geschichts- und Gesellschaftstheorie gemeint. Diese ist marxistisch, weil sie dem Bereich des Ökonomischen, insbesondere der Produktion (Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse), eine determinierende Rolle zuschreibt. Die Produktionsökonomie steuert gleichsam alle anderen Bereiche der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich: Staat, Recht, Kultur, ReligionReligion, religiös. Die Ökonomie der Produktion stellt von daher die BasisBasis, alle anderen gesellschaftlichen Bereiche den sogenannten ÜberbauÜberbau in der Architektur der Gesamtgesellschaft dar, schon die Metaphorik weist auf die statische Sichtweise der MarxMarx, Karl’schen Theorie (→ Kap. 6, 12).
SimmelSimmel, Georg greift nun diese Haus-MetapherMetapher auf, indem er das Haus durch einen Unterstock, einen kulturellen Keller gleichsam komplettiert. Dieses neue Stockwerk wäre die Kultur. Die Erscheinungsformen des Ökonomischen, und das ist bei SimmelSimmel, Georg vornehmlich das kommunizierte Begehrensmedium GeldGeld, werden selbst „aus psychologischen, ja metaphysischen Voraussetzungen“ erklärt,6 MarxMarx, Karl ist ein ökonomischer, SimmelSimmel, Georg ein kultureller Materialist. Im Vorgriff auf spätere Kulturtheorien kann man füglich behaupten, dass viele von ihnen, gerade jene kritisch-linker Provenienz, aus dem Unbehagen an dem ökonomischen DeterminismusDeterminismus hervorgegangen sind, den der MarxismusMarxismus, marxistisch entfaltet und ausgebildet hat.
Pointiert gesagt, legt der orthodoxe MarxismusMarxismus, marxistisch die Idee nahe, dass Kultur keinen eigenständigen Bereich darstellt, sondern mehr oder weniger nur ein Reflex ist, ein Abbild, ein Spiegel, ein ÜberbauÜberbau auf einem Fundament.7 Nicht wenige Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts – Cultural StudiesCultural Studies, Frankfurter SchuleFrankfurter Schule, AlthusserAlthusser, Louis, GramsciGramsci, Antonio – zeichnen sich dadurch aus, dass sie diesen Ökonomismus kritisch hinterfragt und revidiert haben (→ Kap. 6, 12).
SimmelSimmel, Georg interessiert sich vor allem für die kulturellen Veränderungen, die mit dem Triumph des GeldesGeld als eines für alle verbindlichen MediumsMedium einhergehen. Er benennt sie zunächst einmal, um sie an späterer Stelle ausführlich zu analysieren. Es geht ihm dabei nicht um die Einstellungen und Gesinnungen einzelner Menschen, sondern um eine kollektive Formung des Menschen unter den Bedingungen einer durch das Geld bestimmten Kultur. Diese besitzt eine entschieden eigene Logik, das heißt aber auch, dass sie eine ganz bestimme Kultur repräsentiert. An dieser Stelle wird deutlich, was kultureller MaterialismusMaterialismus bei SimmelSimmel, Georg bedeutet: Die Veränderung der MentalitätenMentalität(en), Einstellungen und Verhaltenswerte ist weniger den diversen intellektuellenIntellektueller, intellektuell und geistigen Programmen und Manifesten geschuldet, die Menschen – Dichter, Philosophen, Politiker – formulieren, sondern liegt im Wesen des Geldes begründet, das auf einmalige Weise subjektivesSubjektivität, subjektiv BegehrenBegehren steuert und mit einem rationalen Kalkül verbindet. SimmelSimmel, Georg benennt diese Phänomene der modernenModerne, modern, -moderne Geldkultur in loser summarischer Abfolge: Charakterlosigkeit, Intellektualisierung, Kult und Kultur der DingeDinge (Kultur der), wachsende Bedeutung der Präsentation, Kult der Person, IndifferenzIndifferenz, ‚KommunismusKommunismus‘, Pazifismus, Abschwächung der Gefühlsfunktionen, Wandel der Geschlechterbeziehungen.
Diese Auflistung ist keineswegs zufällig, sondern macht die Bandbreite der Wirkung des MediumsMedium GeldGeld plastisch. Die Verschiedenheit hat einen gemeinsamen Nenner: das kommunizierte BegehrenBegehren, das in seinem Einsatz der Mittel von großer Rationalität getragen ist. Bemerkenswert ist aber auch das, was ich die radikale AmbivalenzAmbivalenz im Denken SimmelsSimmel, Georg nennen möchte: Die Angehörigen der Geldkultur haben keine Wahl zwischen deren positiven und deren negativen Aspekten, denn beide Seiten bilden eine unzertrennliche Einheit. So ist der charakterlose Mensch der Kultur des Geldes keineswegs nur negativ, ihm sind nur die festen Grundlagen des Seins abhanden gekommen, deshalb fällt es ihm – so jedenfalls das Argument von SimmelSimmel, Georg – leichter, friedfertig zu sein.
Betrachten wir also noch einmal etwas genauer die Phänomene des Begehrens und Wertens. Wie wir schon gesehen haben, hat MarxMarx, Karl bekanntlich den Wert der Ware an die durchschnittlich in dieser vergegenständlichten Arbeit geknüpft.8 Wenn die Arbeit jenes Element ist, das den Wert einer Ware konstituiert, liegt es nahe, das Hauptaugenmerk dieser Produktionsstätte nicht nur der modernenModerne, modern, -moderne Waren, sondern auch ihres Wertes zuzuwenden. Kurzum, der von MarxMarx, Karl initiierte DiskursDiskurs ist auf die Produktion, nicht auf die Distribution und die medialen Interaktionen und Inszenierungen gerichtet. Mit dieser so produktiven wie unproduktiven Blickverengung hängt ursächlich zusammen, dass der orthodoxe MarxismusMarxismus, marxistisch niemals eine anspruchsvolle Kultur-, geschweige denn eine MedientheorieMedien, Medien-, -medien, medien- hervorgebracht hat. Dass der Realsozialismus zum Zeitpunkt einer medialen Revolution, der des Computers, in sich zusammensackte, war also kein reiner historischer Zufall.
SimmelSimmel, Georg hingegen interessiert sich für die PhänomenologiePhänomenologie des Tausches. Für ihn ist der Wert an ein begehrendes Ich geknüpft, das den Abstand zum begehrten ObjektObjekt (im realen wie im übertragenen Sinn) zu überwinden sucht, um dieses als Besitzer in Händen zu halten. Aber nicht alle DingeDinge dieser Welt begehrt jeder von uns in gleicher Weise, um sie sodann – wirklich oder vermeintlich – genießen zu können. Es gibt da individuelleindividuell Unterschiede: Was für den einen der BMW, ist für den anderen die große Weltreise, das Glück des Eigenheims, wertvoller Schmuck, teure Gemälde. Aber die individuelle DifferenzierungDifferenzierung, die durch die Kultur des GeldesGeld eingeleitet wird, hat noch einen anderen Aspekt. Wir vergleichen die Dinge, die uns die moderneModerne, modern, -moderne Kultur anbietet. Wir stellen – mit oder ohne Fee, die uns drei Wünsche frei stellt – eine implizite oder explizite Prioritätenliste auf, sozusagen die Top Five unserer Begehrens-Hitparade: Wir unterscheiden Dinge, die wir begehren, von Dingen, die uns vollkommen gleichgültig sind. Den Objekten fließt also Wert nur deshalb zu, weil sie Objekte eines – meines – subjektivenSubjektivität, subjektiv Begehrens sind. Geld ist MediumMedium und Motor der Selbstdarstellung und Selbstkonstruktion des modernen Individualismus. Dass diese Objekte ihren Wert auf Grund unserer eigenen Wertsetzung besitzen, dass also Geld etwas zutiefst ‚Menschliches‘, durch uns Geschaffenes ist, entgeht uns im AlltagAlltag, Alltagskultur, Alltags- einigermaßen gründlich, wir
empfinden […] Dingen, Menschen, Ereignissen gegenüber, dass sie nicht nur von uns als wertvoll empfunden werden, sondern wertvoll wären, auch wenn niemand sie schätzte.9
Was SimmelSimmel, Georg hier anspricht, hat Karl MarxMarx, Karl im prominenten Warenkapitel im ersten Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerks Das KapitalKapital, Kapitalismus, kapitalistisch mit Scharfsinn und Witz als „FetischcharakterFetisch(ismus), Fetischcharakter der Ware“ beschrieben:10 Den Gegenständen wird eine geheimnisvolle Kraft zugeschrieben, die sie von sich aus gar nicht besitzen (→ Kap. 6).
Ganz analog zu KantKant, Immanuel, der nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung gefragt hatte, stellt SimmelSimmel, Georg die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten des Begehrens: Die Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, dass sie uns – zumindest zunächst – nicht zur Verfügung stehen, sondern sich uns entziehen:
Das so zustande gekommene ObjektObjekt, charakterisiert durch den Abstand vom SubjektSubjekt, den dessen BegehrenBegehren ebenso feststellt wie zu überwinden sucht –, heißt uns ein Wert.11
An die Stelle eines statisch-kontemplativen Verhältnisses zwischen SubjektSubjekt und ObjektObjekt tritt eine dynamische und funktionale Beziehung. Steht für die klassische Philosophie das Sein der DingeDinge, das Verhältnis des Seienden (in seiner Mannigfaltigkeit) zum Sein, im Mittelpunkt allen Fragens, so werden in der Philosophie des GeldesGeld der Wert der Dinge und die daraus erwachsenen RelationenRelation (BegehrenBegehren, Tausch) zur treibenden Kraft der Kultur. Das Geld überlagert auch all jene Elemente, die VicoVico, Giambattista für konstitutiv gehalten hat: