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zur Anwendung bringen:
Wie der, der das GeldGeld hat, dem überlegen ist, der die Ware hat, so besitzt der intellektuelleIntellektueller, intellektuell Mensch als solcher eine gewisse MachtMacht gegenüber dem, der mehr im Gefühle und Impulse lebt. Denn soviel wertvoller des letzteren Gesamtpersönlichkeit sein mag, so sehr seine Kräfte in letzter Instanz jenen überflügeln mögen – er ist einseitiger, engagiert, vorurteilsvoller als jener, er hat nicht den souveränen Blick und die ungebundenen Verwendungsmöglichkeiten über alle Mittel der PraxisPraxis wie der reine Verstandesmensch.16
Wichtig ist hier festzuhalten, dass diese Überlegenheit zunächst einmal eine rein praktische und keineswegs eine moralische ist. Im Gegenteil. Ein klein wenig suggeriert SimmelSimmel, Georg den Eindruck, dass diese Überlegenheit möglicherweise moralisch durchaus fragwürdig ist. Mit dem GeldGeld umgehen zu können, ist also eine KulturtechnikTechnik, -technik, die Menschen erst erlernen müssen. Sie setzt die Kenntnis von Kalkülen und die Rechtfertigung von diversen Operationen voraus. Diese ‚mediale‘ Rationalität konzentriert sich auf den ökonomisch effizienten Mitteleinsatz zur Erreichung eines bestimmten Zieles. Das gilt nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern in allen relevanten Bereichen der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich. In dieser Konzentration liegt freilich, wie SimmelSimmel, Georg später zeigen wird, auch ein verkehrendes Moment: dass nämlich wie bei Dagobert Duck in Entenhausen das Mittel alles, nämlich zum Ziel wird.
1 Aus der Rationalität des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLebensstil resultiert, dass er intellektuellIntellektueller, intellektuell, d.h. charakterlos ist. Aber das Wort „charakterlos“ erfährt hier ebenso wie das Adjektiv „intellektuell“ eine verschobene Bedeutung. Es meint nicht, dass alle Mitglieder der modernen Geldkultur moralisch defizitär wären, es meint auch nicht, dass alle Menschen zu Intellektuellen würden. Und es bedeutet auch nicht, dass Intellektuelle charakterlos in moralisch abwertendem Sinn sind – Zuschreibungen, die von radikalen linken wie rechten Denkern immer wieder vorgebracht worden sind. Simmel schreibt diesbezüglich:
Der IntellektIntellekt, seinem Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht.17
Das Wort „Charakter“ kommt aus dem Altgriechischen. Sein Bedeutungsumfang lässt sich durch Worte wie Gepräge, Ritzung, Zauberzeichen, amtliche Eigenschaft, Rang, Stand beschreiben. Der „charakterlose“ LebensstilLebensstil ist ambivalent und widerspricht dem berühmten Lutherischen Diktum: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. In den KontextKontext des (post-)modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben gestellt, bedeutet er demgegenüber: Hier bin ich gerade, ich kann auch anders. Die heute allseits beschworene Biegsamkeit (Flexibilität), die geschickt der sozialen Unterwerfung des einzelnen Menschen unter die Logik des KapitalsKapital, Kapitalismus, kapitalistisch einen dynamisch-erotischen ‚Kick‘ verleiht, weist genau in diese Richtung: Bereitschaft zur permanenten Veränderung, zum Wechsel der eigenen IdentitätIdentität.
Überhaupt ist es sinnvoll, SimmelsSimmel, Georg Begriff der Charakterlosigkeit mit den Identitätsdebatten unserer Tage in Verbindung zu bringen. Charakterlos bedeutet auch, die Einbuße, die Unmöglichkeit, den (scheinbar) freiwilligen Verzicht auf eine fixe, unveränderliche IdentitätIdentität, freiwillig zu akzeptieren. Nicht nur haben wir verschiedene Identitätsoptionen – nationaleNation, Nationalismus, national, geschlechtlichegeschlechtlich, berufliche, regionale usw. – wir ändern womöglich auch unsere Identität im Laufe unseres LebensLeben, Lebens-, -leben. Diese Form von verflüssigter Identität wird in der modernenModerne, modern, -moderne Kultur offenkundig vorgezogen.
Um sich dies anschaulich vor Augen zu führen, kann man auch einen Blick von SimmelsSimmel, Georg opus magnum auf ein literarisches Werk werfen, auf Robert MusilsMusil, Robert Roman Mann ohne Eigenschaften, der sich – nebenbei bemerkt – als eine KulturanalyseKulturanalyse mit literarischen Mitteln lesen lässt. Der schon im Titel des Buches angesprochene Mangel an Eigenschaften des Sohnes, der im Kontrast zum Vater, dem Mann mit Eigenschaften steht, korrespondiert ganz offenkundig mit der SimmelSimmel, Georg’schen Charakterlosigkeit.
SimmelSimmel, Georg zielt auf etwas, das MusilMusil, Robert als Eigenschaftslosigkeit bezeichnet. Der Protagonist Ulrich entspricht wenigstens zu Anfang des Romans mit all seiner nüchternen Distanz, seinem Faible für Körperertüchtigung, seiner IronieIronie und seinem Konsumverhalten der Charakterlosigkeit des SimmelSimmel, Georg’schen Menschen. Er ist dessen spezifisch österreichische Variante, womöglich in DifferenzDifferenz zum realen Autor.
Mit der Eigenschaftslosigkeit ist offenkundig jene Einbuße an Selbstverständlichkeit im Hinblick auf die eigene Person gemeint, der Verlust des GlaubensGlaube an die Verfügbarkeit über die eigene Person, die der klassische HumanismusHumanismus wenigstens nahelegt. Es geht nicht darum, dass Ulrich jedwede Spezifität und Besonderheit eingebüßt hätte, sein Bedürfnis nach aristokratischer DifferenzDifferenz gegenüber dem aufkommenden MassenmenschenMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- ist ohnehin unübersehbar. Aber was ihm abhanden gekommen zu sein scheint, das ist eben jene selbstverständliche IdentitätIdentität mit sich selbst. Das LebenLeben, Lebens-, -leben des modernenModerne, modern, -moderne Menschen ist immer auf Vorbehalt angelegt und gerade deshalb ist es ihm möglich, immer wieder die Rollen zu wechseln.
1 Mit diesem Vorbehalt sich selbst gegenüber und mit der Intellektualität unmittelbar verbunden ist jenes Phänomen, das SimmelSimmel, Georg als „eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens“ bezeichnet. Die Dämpfung des emotionalen LebensLeben, Lebens-, -leben ist eine direkte Folge jener Distanz, die durch das Dazwischentreten des GeldesGeld im zwischenmenschlichen Umgang eingeübt wird. Im strategischen Handeln ist es nicht klug, Gefühle zu zeigen. Noch zu Ende des 18. Jahrhunderts etwa war es in Deutschland üblich, Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen. So wurde es in der Epoche der Empfindsamkeit zum kulturellen Gebot, im Theater öffentlich zu weinen. Ein Begriff wie Herzensbildung erscheint uns heute unerträglich pathetisch. Die Abneigung gegen Sentimentalität und Pathos, die Aufladung des eigenen Selbst im und durch das Gefühl zeigt sich bis vor kurzem auch in der programmatischen Unterkühltheit (coolness) der Jugendkulturen; die spezifische Verwendung des amerikanischen Englischen leistet dabei einen entscheidenden symbolischen Beitrag. Die kulturell eingeübte Kühle in den westlichen Kulturen Nordamerikas und Westeuropas, die von Angehörigen anderer Kulturen nicht selten als unerträgliche Kälte beschrieben wird, hat natürlich auch ihre Kehrseite. Die Berufsgruppe, die uns beibringen möchte, zu unseren Gefühlen zu stehen, Gefühl zu zeigen, unsere Emotionen neu zu entdecken, der Bereich der Psychotherapie im weitesten Sinn, wächst mit dem kulturellen Imperativ, als Agent der Geldkultur kühlen Kopf zu bewahren. In gewisser Weise lässt sich mutmaßen, dass die von SimmelSimmel, Georg beschriebene Tendenz der Emotionsverringerung auch kontrafaktisch ist.
2 Wo es nicht um oder an das persönlich Eingemachte geht, wo die eigene Überzeugung wenig, aber die Einigkeit über bestimmte rationale Prozeduren viel zählt, da stellt sich jenes Phänomen ein, das SimmelSimmel, Georg als „Leichtigkeit intellektueller Verständigung“ beschreibt. Man kann sich einigen, weil für alle Beteiligten nicht allzu viel auf dem Spiel steht, außer der eigenen Selbstbehauptung. Es geht nicht – um einen alten Pop-Song zu zitieren – um All or Nothing. Kein Zufall, dass in dieser Kultur eine Berufsgruppe auf dem internationalen Parkett zunehmend an Bedeutung gewinnt: die Diplomatie. Sie ist die hohe SchuleSchule des Kompromisses, der Gewandtheit und der Mediation, die mittlerweile Teil unseres gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags- geworden ist, und zwar auf allen Ebenen unserer Kultur: privat wie öffentlich. Um in diesem Spiel zu bestehen, bedarf es eben eines gewissen Maßes an Charakterlosigkeit, eines Mangels an eigenen inneren Überzeugungen. Denn solange sich die eigene IdentitätIdentität aus solchen inneren ‚tiefen‘ Überzeugungen und Gefühlen bestimmt und speist, so lange wird jeder Kompromiss zwangsläufig zu einem Verrat an sich selbst. Als 1989 die Grenzen zwischen Ost- und Westeuropa fielen, konnte man die von SimmelSimmel, Georg beschriebene kulturelle DifferenzDifferenz sehr gut wahrnehmen, hier die gewandten, emotional ‚abgeflachten‘ Westeuropäer, dort jene Menschen, die über Standpunkte, Emotionen, Ecken und Charakter verfügten und diese auch in ihrem Handeln