Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk

Kulturtheorie - Wolfgang Müller-Funk


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scharfen Worten attackiert er etwa den Genozid an den slawischen Pruzzen durch die deutschen Ordensritter im Gefolge der Kolonisation in Osteuropa, die sich den Namen der von ihnen Ermordeten aneigneten.

      Wenn HerdersHerder, Johann G. Kulturtheorie – vorsichtig formuliert – gleichwohl reaktionären, nationalistischen und protofaschistischen Denkern den Weg bahnte, dann lässt sich das schwerlich aus der Intention, sondern viel eher aus den Widersprüchen, AmbivalenzenAmbivalenz und Unentschiedenheiten seines Denkens ableiten. Der Widerspruch zwischen UniversalismusUniversalismus und KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus, um den sein Denken kreist, ist bis heute ein theoretisches und praktisches Problem geblieben. So verstummt unser Lob der kulturellen DifferenzDifferenz, wenn uns die betreffende Kultur als gewalttätig, frauenfeindlich und undemokratisch erscheint. Im Spannungsfeld des Respekts für andere Kulturen und des Insistierens auf Menschenrechten ist eine dritte Position zu formulieren, die die verschiedenen Kulturen durch das gemeinsame Band einer weltweiten Zivilgesellschaft verbinden will und abweichende Interpretationen ebendieser Menschenrechte konzediert. Ob diese Kompromissformeln tragfähig sind, bleibt abzuwarten. Aber in all diesen Debatten murmelt, um einen Ausdruck FoucaultsFoucault, Michel zu gebrauchen, die Stimme HerdersHerder, Johann G. mit und nach.

      HerderHerder, Johann G. ist einer der einflussreichsten Denker im KontextKontext von Nachaufklärung und ModerneModerne, modern, -moderne, wie der folgende Überblick illustriert:

       RomantikRomantik: Neue MythologieMythos, Mythologie, mythisch, Volkslied, Volksmärchen, PopularkulturPopularkultur,

       HistorismusHistorismus (Ranke: Alle Epochen sind gleich zu Gott),

       NationalismusNation, Nationalismus, national und KommunismusKommunismus,

       Konservative Revolution (Oswald SpenglerSpengler, Oswald, Der Untergang des AbendlandsAbendland, abendländisch, Arnold Josef ToynbeeToynbee, Arnold J., Der Gang der Weltgeschichte32),

       Josef NadlersNadler, Josef Konzept der Literaturgeschichte als Kulturgeschichte der deutschen Stämme,

       Samuel HuntingtonHuntington, Samuel, Der Kampf der KulturenKampf der Kulturen.

       Die gegenwärtigen Identitätsdiskurse, die mittlerweile gesellschaftspolitisch durchschlagen, verraten eine strukturelleStruktur, strukturiert, strukturell Ähnlichkeit mit HerdersHerder, Johann G. KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus. Sie postulieren die Vermehrung kultureller Differenzen, die sich nicht auf universale, sondern auf partikulare Anerkennung, auf ein Recht nach IdentitätIdentität berufen.33

      Literatur

      Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), Stuttgart: Reclam 1990.

      Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Gesammelte Werke, Bd. 3.1 und 3.2, (hrsg. von Wolfgang Pross), München: Hanser 2002, Abschnitt IV.4.

      Vico, Giambattista, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker (Nach der Ausgabe von 1744, übersetzt von Erich Auerbach), Nachdruck, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 43–72.

      Babka Anna, Malle, Julia, Schmidt, Matthias (Hrsg.), Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung. Reflexion, Wien: turia + kant 2012.

      Barnard, Frederick M., Herder on nationality, humanity, and history, Montreal: McGill-Queen’s UP 2003.

      Battistini, Andrea/Guaragnella, Pasquale (Hrsg.), Giambattista Vico e l’enciclopedia dei saperi, Lecce: Pensa multimedia 2007.

      Burke, Peter, Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft, Frankfurt/Main: Fischer 1990.

      Croce, Benedetto, La filosofia di Giambattista Vico, (hrsg. von Felicita Audisio), Napolis: Bibliopolis 1997.

      Croce, Benedetto, Gesammelte philosophische Schriften in deutscher Übertragung: Die Philosophie Giambattista Vicos, (hrsg. von Hans Feist, aus dem Italienischen von Erich Auerbach und Theodor Lücke), Tübingen: Mohr 1927.

      Fellmann, Ferdinand, Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/Br.: Alber 1976.

      Groß, Sabine (Hrsg.), Der frühe und der späte Herder. Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder Gesellschaft Saarbrücken 2004, Heidelberg: Synchron 2007.

      Heise, Jens, Johann Gottfried Herder zur Einführung, 2. Auflage, Hamburg: Junius 2006.

      Kessler, Martin (Hrsg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerks, Berlin/New York: de Gruyter 2005.

      Kittler, Friedrich, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München: Fink 2000, S. 19–51.

      König, Peter, Giambattista Vico, München: Beck 2005.

      Möller, Michael F., Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Das Menschenbild Johann Gottfried Herders im Kontext von Theologie und Philosophie der Aufklärung (hrsg. von Ulrich Kühn), Frankfurt/Main: Lang 1998.

      Müller-Funk, Wolfgang, Der Intellektuelle als Souverän, Wien: Deuticke 1995, S. 111–128.

      Müller-Funk, Wolfgang, Die Kunst des Zweifelns. Einträge zur Philosophie in ungefügen Zeiten, Wien: Sonderzahl 2021.

      Neuber, Wolfgang, Nationalismus als Raumkonzept. Zu den ideologischen und formalästhetischen Grundlagen von Josef Nadlers Literaturgeschichte, in: Klaus Garber (Hrsg.), Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, München: Fink 2002, S 175–191.

      Otto, Stephan, Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1989.

      Otto, Regine (Hrsg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996.

      Pénisson, Pierre (Hrsg.), Herder et les Lumières. l’Europe de la pluralité culturelle et linguistique, Paris: Presses Univ. de France 2003.

      Sonderegger, Arno, Jenseits der rassistischen Grenze. Die Wahrnehmung Afrikas bei Johann Gottfried Herder im Spiegel seiner Philosophie der Geschichte (und der Geschichten anderer Philosophen), Frankfurt/Main: Lang 2002.

      Sundhausen, Holm, Der Einfluss der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie, München/Wien: Oldenbourg 1973.

      Taylor, Irmgard, Kultur, Aufklärung, Bildung, Humanität und verwandte Begriffe, Gießen: Münchow 1938.

      Wiese, Benno von, Herder. Grundzüge seines Weltbildes, Leipzig: Bibliographisches Institut 1939.

      Woidich, Stefanie, Vico und die Hermeneutik. Eine rezeptionsgeschichtliche Annäherung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.

      Kapitel 5 Georg SimmelSimmel, Georg: GeldGeld und ModeMode

      Bei der Beschäftigung mit der Theorie der Kulturwissenschaft – und als solche wird Kulturtheorie in diesem BuchBuch (als Medium) verstanden – stellt sich eine fortwährende Verunsicherung ein, für die die Begriffe des Transdisziplinären oder Interdisziplinären gar nicht hinreichen. Denn Interdisziplinarität beschreibt das Verhältnis zweier mehr oder weniger kompakter und gut voneinander abgegrenzter Wissenschaftsdisziplinen. Transdisziplinarität wiederum meint ein Überschreiten der disziplinären Grenzen in einem Niemandsland, einer Art terra incognita. Die Verunsicherung, um die es hier geht, reicht tiefer: Man weiß nicht mehr, auf welchem Feld und in welcher Disziplin man sich gerade aufhält. Aus heutiger Warte ist gänzlich unklar und kaum entscheidbar, ob man sich in SimmelsSimmel, Georg Werk auf kultursoziologischem, kulturphilosophischem oder eben kulturwissenschaftlichem Boden befindet. Sein Werk entzieht sich einer eindeutigen Beschreibung. Vielleicht ist es ein Charakteristikum der heutigen Kulturwissenschaften, dass sie nicht auf trittfestem Gelände agieren, dass sie zusammengesetzte ad hoc-Disziplinen hervorbringen und sich zudem nur schwer von jenen transdisziplinären Anstrengungen abgrenzen können, die sich seit den 1970er Jahren um das Makrophänomen ‚GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich‘ herum gebildet haben.

      In jedem


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