Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
Schrift sprechen Aufruhr, Anklage und Empörung. Eine Orgie von Ausrufezeichen in einem Text, der den Gestus der mündlichen Auseinandersetzung nachahmt. Als ersten Punkt in seinem Duell mit den arroganten philosophes nimmt er sich deren GeschichtsbildGeschichtsbild vor, das das MittelalterMittelalter in Bausch und Bogen als finster verwirft. HerderHerder, Johann G., der mit GoetheGoethe, Johann W. im Straßburger Münster die Gotik neu entdeckt hat, verdammt die Verdammnis dieses Mittelalters, das eine so imposante Kultur hervorgebracht hat. Dieses MittelalterMittelalter ist ein Zerrbild, eine Erfindung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken:
Wie töricht, wenn du diese Unwissenheit und Bewund[e]rung, diese Einbildung und Ehrfurcht, diesen Enthusiasmus und Kindessinn mit den schwärzesten Teufelsgestalten deines Jahrhunderts, Betrügerei und Dummheit, Aberglaub[en] und SklavereiSklaverei brandmarken, dir ein Heer von Priesterteufeln und Tyrannengespenstern erdichten will[st], die nur in deiner Seele existieren! Wie tausendmal mehr töricht, wenn du einem Kind deinen philosophischen Deismus, deine ästhetische Tugend und Ehre, deine allgemeine Völkerliebe voll toleranter Unterjochung, Aussaugung und AufklärungAufklärung, aufklärungs- nach hohem Geschmack deiner ZeitZeit großmütig gönnen wolltest!19
Es geht in diesem Text um nichts Geringeres als die Zerstörung des Selbstbildes der AufklärungAufklärung, aufklärungs-, HerdersHerder, Johann G. Schrift hält ihr sozusagen ihr wahres BildBild entgegen, und das ist alles andere als schmeichelhaft. Was HerderHerder, Johann G. an der Aufklärung so reizt, ist ihr Hochmut. Die Toleranz, auf die sich die Aufklärer so viel einbilden, ist für HerderHerder, Johann G. nichts anderes als Ausübung von MachtMacht und HerrschaftHerrschaft. Damit erinnert HerderHerder, Johann G. nicht ganz zu Unrecht an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Toleranz“: Duldung, Erlaubnis von oben. Das Wort, das er verwendet, heißt: Gönnen. Der UniversalismusUniversalismus, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, bedeutet eine Missachtung anderer, zeitlich früherer oder räumlich entfernter Kulturen im Namen der sich selbst zugeschriebenen, perspektivischen intellektuellenIntellektueller, intellektuell Überlegenheit. Der Universalismus der westlichen ZivilisationZivilisation, so lautet der überraschend aktuelle Befund, trägt die Tendenz in sich, andere Kulturen zu missachten, sie nicht zu respektieren und sie zu unterdrücken. In diesem Sinn hat das Narrativ (→ Kap. 13) der Aufklärung im Zeitalter des KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert aber auch noch im PostkolonialismusPostkolonialismus, postkolonial seine Wirksamkeit entfaltet, von der Bürde des weißen Mannes bis zur amerikanischen Mission in der Welt, wie sie etwa ein FukuyamaFukuyama, Francis20 predigt.
Zornig ist der junge Philosoph – was hier vor sich geht, ist ein klassischer Generationsbruch – aber auch auf die AufklärungAufklärung, aufklärungs-, weil sie blind ist, weil sie die Konkretheit und VielfaltVielfalt dieser Welt übergeht. Sie hat keinen Blick für die Fülle der sichtbaren Phänomene in RaumRaum und ZeitZeit. Gegen die Abstraktion seiner theoretischen Gegner setzt HerderHerder, Johann G. auf ein sinnliches Denken:
[…] ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläufen – lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ich’s wie du, dass jedes allgemeine BildBild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – der Schöpfer allein ist’s, der die ganze Einheit, einer, aller NationenNation, Nationalismus, national in ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne dass ihm dadurch die Einheit schwinde.21
In der frühen Streitschrift wird bereits der Grundriss von HerdersHerder, Johann G. späterer Denkarchitektur sichtbar. So impliziert die Kritik am BildBild der finsteren Vergangenheit seitens der AufklärungAufklärung, aufklärungs- einen dezidierten historischen und kulturellen RelativismusRelativismus, relativ. Die ZeitZeit kann ebenso wenig wie der RaumRaum als ein Gradmesser für den ‚FortschrittFortschritt‘ angesehen werden. Eine gewisse Unentschiedenheit ist indes beim frühen HerderHerder, Johann G. nicht zu übersehen. Es ist nicht ganz klar, ob HerderHerder, Johann G. die Bewertung etwa des Mittelalters durch die Aufklärung konkret ablehnt oder ob er derartige Beurteilungen im Hinblick auf Kulturen generell für problematisch hält. Offenkundig beides. Daraus folgt ein zweiter Kritikpunkt: Die Aufklärung privilegiert sich historisch, sie nimmt sich zu wichtig, sie ist das OpferOpfer einer perspektivischen (Selbst-)Täuschung. Sie konstituiert sich als zeitliche Zentralperspektive, von der aus der Ablauf der GeschichteGeschichte aus konstruiert wird. In HerdersHerder, Johann G. Abrechnung mit dem UniversalismusUniversalismus spielt schon ein Motiv herein, dass heute, gerade im Bereich der Cultural StudiesCultural Studies von großer Bedeutung ist: der Vorwurf des Ethnozentrismus, der Verabsolutierung der eigenen kulturellen Werte, die zum Maßstab der Bewertung aller Kulturen erhoben werden (→ Kap. 12). Mit dem universalen Narrativ (→ Kap. 13) vom Fortschritt der Menschheit hat der Westen zum ersten Mal einen scheinbar objektivenobjektiv, Objektiv- Maßstab gefunden, an dem sich die Rückschrittlichkeit und Fortschrittlichkeit aller Kulturen ‚exakt‘ bemessen lässt. Demgegenüber beharrt HerderHerder, Johann G. darauf, dass jede Kultur ihre eigenen Maßstäbe in sich trage und nur aus diesen heraus verstanden und gewürdigt werden könne. Wiederholt kritisiert der Autor, dass seine Epoche andere, räumlich oder zeitlich entfernte Kulturen an ihren eigenen, aufklärerischen Idealen messe.
Daraus ergibt sich nahtlos ein dritter kritischer Einwand. Der im universalistischen Pathos verschwiegene Ethnozentrismus der AufklärungAufklärung, aufklärungs- ist gar nicht so tolerant, wie es den Anschein hat, wobei wie oben erläutert der Begriff der Toleranz, der Duldung, einen herrschaftlichen Gestus mit sich bringt. Das aufgeklärte Europa ist intolerant, weil es seine eigenen Werte verabsolutiert. Aus dieser Kritik erwächst viertens ein Gegenmodell, das das Verhältnis von Einheit und VielfaltVielfalt in neuer Form denkt. Gegen den abstrakten UniversalismusUniversalismus formuliert der junge Philosoph aus Mohrungen sein Lob der Vielfalt. Er tut dies programmatisch gegen eine Haupttendenz in der Aufklärung. In der Tat stellt die Kultur aus kosmopolitischer Sicht, so wie sie sich als ein Ensemble von Partikularitäten präsentiert, ein Ärgernis dar, einen überflüssigen Zaun, der eine weltweite friedliche KommunikationKommunikation verhindert. Eingestanden oder nicht, zielt der Universalismus darauf ab, Verhältnisse herzustellen, die ihm günstig sind. Die Partikularität der Kulturen stellt wenigstens auf den ersten Blick ein Hindernis für einen universalistischen Kosmopolitismus dar.
Um also das Lob der VielfaltVielfalt anzustimmen, bedarf es eines Argumentes, dass dieser Vielfalt der Einheit der Menschen keinen Abbruch tut und zugleich die kollektive SelbstbildungSelbstbildung der Menschheit befördert. An dieser Stelle vollzieht HerderHerder, Johann G. eine schroffe anthropologische und eine theoretische Wende, eine anthropologische insofern, als er von der menschlichen Unvollkommenheit und damit auch von der Unvollkommenheit der verschiedenen Kulturen ausgeht. Die Vollkommenheit, die HerderHerder, Johann G. nun, durchaus im Einklang mit der AufklärungAufklärung, aufklärungs- zumindest anstrebt, ist niemals in einer Kultur anzutreffen. Daraus ergibt sich als theoretische Begründung der Bedeutung von Vielfalt, dass Vollkommenheit, wenn überhaupt, nur in der Vielfalt der Kulturen dieser Welt zu erreichen ist. Das wäre die theoretische Wende. Das heißt also: Auch wenn man die Werte und Ziele der Aufklärung, nicht aber ihre Mittel und ihr SelbstbildSelbstbild teilt, dann muss man statt eines abstrakten UniversalismusUniversalismus, der unterschiedslos von der Menschheit spricht, einen KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus der Vielfalt propagieren, der einzig und allein das Ziel der menschlichen BildungBildung und Vervollkommnung anvisiert. In diesem Sinn präsentiert sich HerdersHerder, Johann G. Position als eine Alternative, die nicht hinter die Aufklärung zurückfallen, sondern über sie hinaus gehen möchte. Dies bringt das umständliche, aber zugleich selbstbewusste ‚Auch‘ im Titel der Schrift zum Ausdruck: Auch der HerderHerder, Johann G.’sche Text redet einer universalen Philosophie der GeschichteGeschichte zur Bildung der Menschheit das Wort.
Der fünfte Punkt betrifft HerdersHerder, Johann G. Kritik am abstrakten Geschichtsentwurf der AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Dieser sieht von der spezifischen kulturellen Befindlichkeit des Menschen und vom Eigensinn der Kulturen einigermaßen programmatisch ab. Die Aufklärung ist schlecht abstrakt. An dieser Stelle wird sichtbar, wie sich Kulturtheorie durch philosophische Kritik konstituiert. Denn um der Konkretheit der Kultur gewahr zu werden, bedarf es einer bestimmten Art von Theorie, einer Theorie der Kultur, die zugleich Kulturanthropologie ist. HerderHerder, Johann G. bestimmt Kultur als eine sinnliche und organische Einheit, ja als ein