Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
den Augen HorkheimersHorkheimer, Max und AdornosAdorno, Theodor W. nur ein schlagendes Beispiel für die Selbstverkehrung der neuzeitlichen AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Übrigens diskutieren die beiden Autoren den Antisemitismus und sein letztes Kapitel im Sinn einer fehlgegangenen europäischen Aufklärung. Die Judenvernichtung ließe sich demnach – das wird in der Dialektik der Aufklärung nicht ausgeführt, ist aber in der Logik des Werkes angelegt – als die mörderischste historische Version einer Verdinglichungstendenz begreifen, die der „Aufklärung“ inhärent war: Vernichtung als radikalste Form der Verdinglichung.16
HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. verändern aber auch – und das ist nicht selten moniert worden – den Begriff AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Sie meinen damit nicht so sehr eine bestimmte historische Epoche (das 18. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution) oder ein bestimmtes Land (Frankreich), sondern begreifen vielmehr Aufklärung als ein Langzeit-Projekt, das in der abendländischenAbendland, abendländisch Kultur schon früh angelegt war. Deshalb sind nicht bloß KantKant, Immanuel und de SadeSade, Marquis de, sondern auch, übrigens in verzerrter und einseitiger Form, BaconBacon, Francis oder gar HomersHomer Odysseus repräsentative Figuren der Aufklärung und der von ihr verursachten Demontage des Menschlichen, das historisch freilich immer nur als utopische Möglichkeit und als Anspruch bestanden hat.
Denn die Bezugnahme auf die AufklärungAufklärung, aufklärungs- besagt doch, dass diese auf eine wenn auch sehr indirekte Weise den Maßstab für die kulturtheoretischen Befunde der beiden Autoren bildet. Denn ihre Utopie und ihre Vision waren ja die Herstellung menschenwürdiger Verhältnisse, die Abschaffung von Ausbeutung, die Beseitigung von Armut, Not und Unterdrückung,17 die Herstellung einer entfalteten, unentfremdeten Menschlichkeit, die Überwindung von MythosMythos, Mythologie, mythologisch und AberglaubenAberglaube. Nur die tiefe Kluft zwischen diesen unbescheidenen Erwartungen und einer epochalen Katastrophe wie Auschwitz lässt die Dimension jener DialektikDialektik sichtbar werden, um die es AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max geht, einer Katastrophe, die das bisher Vorstellbare übersteigt und auch so eine Herausforderung nicht nur für die KunstKunst, Kunstwerk, sondern auch für das Denken darstellt.
Die DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs- ist ein zutiefst radikales und in dieser Radikalität anfechtbares kulturpessimistisches Werk, das sich durchaus in ein merkwürdiges, spezifisch deutsches Unbehagen an TechnikTechnik, -technik und Wissenschaft einordnen lässt. Es unterscheidet sich indes dadurch, dass es sich – das ist in der Auseinandersetzung mit Ludwig KlagesKlages¸ Ludwig, einem der Stichwortgeber der Konservativen Revolution gut ablesbar – jedweder Art von Romantisierung vormodernerModerne, modern, -moderne Zustände widersetzt. Die beiden Autoren werden nicht müde, die heimlichen und auch offenen Befürworter des MythosMythos, Mythologie, mythologisch an dessen Blutspur in der GeschichteGeschichte zu erinnern. Auf paradoxe Weise behalten sie letztendlich jenen Maßstab bei, der durch die historischen Ereignisse in sein Gegenteil verkehrt worden ist: den der Aufklärung und des kritischen Denkens, das sich nun gegen die Aufklärung selbst richtet. Der Umschlag der Aufklärung in ihr Gegenteil wird im BuchBuch (als Medium) auf verschiedenen Ebenen thematisiert.
Die Verkehrung der Wissenschaft in ihr Gegenteil, in MythosMythos, Mythologie, mythologisch und magisches Denken. So wie das magische Denken den Dingen eine geheimnisvolle MachtMacht zuspricht, so die Wissenschaft dem Begriff, mit dem sie die Wirklichkeit darunter zu fixieren trachtet. Die Wissenschaftsgläubigkeit der modernenModerne, modern, -moderne (westlichen) Kultur erweist sich also als eine Variante magischen Denkens.
Die Verkehrung von Befreiung in HerrschaftHerrschaft: Ziel der AufklärungAufklärung, aufklärungs- war die Beseitigung von Herrschaft, wie sie im Kampf gegen das ancien régime zum Ausdruck kommt. Diese Abschaffung der Herrschaft von Menschen durch Menschen sollte durch die Beherrschung der NaturNatur bewerkstelligt werden. Aber diese Herrschaft über die Natur, wie sie, HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. zufolge, BaconBacon, Francis schon früh zum Programm erhoben hat, schlägt in ihr Gegenteil um: in die Herrschaft der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, des technisch-ökonomischen Komplexes über den Menschen. Mit dieser Kritik an der Ausbeutung der Natur, die ihre Folgen für Mensch und Natur zeitigt, haben AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max Ideen der Ökologie vorweggenommen, die in den 1980er Jahren dann öffentlich wirksam geworden sind.
Die Mündigkeit des Menschen war – in allen Versionen der AufklärungAufklärung, aufklärungs- – ein erklärtes historisches Ziel. Aber diese Freiheit schlägt in EntfremdungEntfremdung und Objektivierungobjektiv, Objektiv- um: Der Mensch wird gleichsam zum OpferOpfer seines eigenen Freiheitsprojektes. Der Mensch wird zum reinen Mittel reduziert.
Ob es an den falschen ‚Methoden‘ lag oder ob die Ziele von vornherein schon suspekt waren, das wird nicht näher ausgeführt, bleibt ebenso offen wie die Frage nach der Möglichkeit einer alternativen Form von AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Eine solche zeichnet sich allenfalls als ästhetische ReflexionReflexion ab.
Wenn Rationalität selbst zu einer raffinierten und unentrinnbaren Herrschaftspraxis mutiert, dann müsste es eine andere Form von kritischem Denken sein, das diesen Automatismus von Rationalität und Beherrschung – von Dingen, Tieren wie von Menschen – durchbricht. AdornosAdorno, Theodor W. RhetorikRhetorik, seine Programmatik einer essayistischen Schreibweise, ist als der Versuch zu verstehen, einen Sprachwechsel vorzunehmen, der am kritischen Impuls des Denkens festhält, aber zugleich die Machtförmigkeit der begrifflichen SpracheSprache zu unterlaufen sucht. Insbesondere AdornosAdorno, Theodor W. Wertschätzung der KunstKunst, Kunstwerk, ein Erbe der RomantikRomantik, hängt damit zusammen, denn Kunst ist nicht etwas, das die Welt und die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen versucht, sondern sich ihr gleichsam ausliefert.
Die DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs- ist ein kulturphilosophisches Schlüsselwerk, das bis heute wichtige Impulse im kulturwissenschaftlichen DiskursDiskurs liefert. Die Bewertungen und die pointierten Aussagen über den Zustand der okzidentalen Kultur oder über die PopularkulturPopularkultur muss man heute nicht mehr teilen: Zu offenkundig ist, dass es auch schon vor der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Ökonomie Volks- und Popularkulturen mit standardisierender Wirkung gegeben hat und dass kulturelle Programmierung womöglich ein Grundelement menschlichen Daseins darstellt. Allein der Versuch, im Bereich der Kulturtheorie eine dritte Position jenseits von blanker Bejahung des Bestehenden und Nostalgisierung der Vergangenheit einzunehmen, ist bedenkenswert genug. Angesichts der ganz offenkundigen Kehrseiten der modernenModerne, modern, -moderne Popularkultur, ihrer weithin entpolitisierenden Wirkung, ihrer Unbeeindrucktheit gegenüber BildungBildung, ihrer konsumistischen Grundhaltung, lassen sich manche Befunde AdornosAdorno, Theodor W. über die moderne Kulturindustrie noch immer mit Gewinn lesen, auch wenn ein Nachteil AdornosAdorno, Theodor W. etwa gegenüber SimmelSimmel, Georg (→ Kap. 5) oder Roland BarthesBarthes, Roland (→ Kap. 7) unübersehbar ist: Mangel an Unvoreingenommenheit, fehlende Neugierde den Phänomenen gegenüber, vorschnelles Urteil. Die moderne westliche Kultur, wie sie die Emigranten HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. in den 1930er und 40er Jahren in den Vereinigten Staaten kennengelernt haben, wird letztendlich aus der Perspektive eines kulturellen Milieus vorgenommen, das, wie oft vermerkt worden ist, großbürgerlichen Zuschnitts ist.
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