Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
körperlich Stärke wird dem „Primitiven“ zum Verhängnis: Sie macht ihn vertrauensselig, sich selbst und anderen gegenüber: „Die physische Rohheit des Überkräftigen ist sein allemal umspringendes Vertrauen.“9
Die List des Odysseus, das Spiel mit seinem Namen, bei dem er seinen Namen mit dem im Griechischen ähnlich klingenden Oudeis (Niemand) vertauscht, nimmt schon jene Listen vorweg, mit denen die okzidentalen Kolonisatoren Jahrtausende später den autochthonen Völkern Amerikas begegnen werden: falsche Namen, falsche Perlen, ungleicher Tausch. Odysseus’ „Selbstbehauptung aber ist […], wie in aller ZivilisationZivilisation, Selbstverleugnung.“10 Seine „List, die darin besteht, dass der Kluge die Gestalt der Dummheit annimmt, schlägt in Dummheit um, sobald er diese Gestalt aufgibt.“11 In dieser Analyse der List klingt ein Motiv an, das uns bereits in SimmelsSimmel, Georg Philosophie des GeldesGeld begegnet ist, wenn SimmelSimmel, Georg davon spricht, dass der Mensch der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Geldkultur im Akt des Tausches dem vormodernenModerne, modern, -moderne Menschen strategisch überlegen ist, weil er in längeren Reihen des Kalküls zu denken vermag (→ Kap. 5).
In einem dritten Teil werden KantKant, Immanuel und de SadeSade, Marquis de als theoretische Doppelgänger einer AufklärungAufklärung, aufklärungs- verstanden, die den Menschen vergegenständlicht und reglementiert. Auch hier ist eine Nähe zu Überlegungen, wie sie Michel FoucaultFoucault, Michel – etwa im Hinblick auf Wahnsinn und Vernunft – angestellt hat, bemerkenswert. (→ Kapitel 8) In der DialektikDialektik der Aufklärung geht es aber auch um die formale Gleichheit des neuzeitlichen Subjektes, wie sie in KantsKant, Immanuel Moralphilosophie und in de SadesSade, Marquis de bürokratischer Sexualphilosophie zutage tritt, um den Preis von Verfügbarkeit. In der Aufklärung selbst steckt also jenes totalitäre Potenzial, das im 20. Jahrhundert virulent werden sollte. Weitere Themen sind der Antisemitismus und die Kulturindustrie, die HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. als Regression betrachten, nicht nur im Sinne FreudsFreud, Sigmund als zuweilen unvermeidliche Rückkehr in ein infantiles Stadium, sondern als ein Zurückfallen hinter jenen Ausgangspunkt des Menschenmöglichen, wie es in der Aufklärung aufgeleuchtet hatte. Es braucht eigentlich nicht eigens hervorgehoben zu werden, dass all diese Themen bis heute im Brennpunkt nicht nur des kulturwissenschaftlich orientierten Diskurses stehen. Das gilt insbesondere für den Bereich von MassenmedienMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- und Kulturindustrie, der von HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. im Sinn einer radikalen Ökonomisierung der Kultur analysiert wird. Deren tiefster Antrieb ist Objektivierungobjektiv, Objektiv- und Verdinglichung. Insofern gehen ökonomische Effizienz und kulturelle Standardisierung Hand in Hand:
Die traumlose KunstKunst, Kunstwerk fürs Volk erfüllt jenen träumerischen Idealismus, der dem kritischen zu weit ging. […] Nicht nur werden die Typen von Schlagern, Stars, Seifenopern zyklisch als starre Invarianten durchgehalten, sondern der spezifische Inhalt des Spiels, das scheinbar Wechselnde ist selber aus ihnen abgeleitet. Die Details werden fungibel.12
Die modernenModerne, modern, -moderne Massenkulturen sind aber nicht bloß eine Ansammlung von stereoytpisierten Gemeinplätzen, sondern vielmehr ein strukturellerStruktur, strukturiert, strukturell Betrug, der AufklärungAufklärung, aufklärungs- und damit Freiheit unterminiert. Kulturindustrie bedeutet die Verschmelzung von Kultur, MedienMedien, Medien-, -medien, medien- und ReklameReklame zu einem Gesamtkomplex. Die vermeintliche Konsumfreiheit „strahlt“ immer schon als „wirtschaftlicher Zwang“ „zurück“, sie ist eine „Freiheit des Immergleichen“. Die Kulturindustrie wird so zu einer gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Sozialisierung, die indes hinter den Ansprüchen, Erwartungen und Prämissen von Aufklärung und Freiheit zurückbleibt, ja sie am Ende dementiert:
Die Art, in der ein junges Mädchen das obligatorische date annimmt oder absolviert, der Tonfall am Telephon und in der vertrautesten Situation, die Wahl der Worte im Gespräch […] bezeugt den Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell entspricht. Die intimsten Reaktionen des Menschen sind ihnen gegenüber so vollkommen verdinglicht, dass die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen. Das ist der Triumph der ReklameReklame in der Kulturindustrie, die zwanghafte MimesisMimesis des Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.13
Verbunden werden diese auf den ersten Blick heterogenen Themen durch eine gedankliche Klammer, die dem BuchBuch (als Medium) den Titel gegeben hat, die Formel von der DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs-, die längst – wie andere renommierte Titel auch – zu einem Stichwort geworden ist, das sich verselbständigt hat. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Bedeutung dieser Formel für den gesamten Text selbst einzugehen. Denn beide Begriffe, Aufklärung und Dialektik, werden in einer verschobenen bzw. erweiterten Bedeutung verwendet. Das Wort Dialektik, mit dem DialogDialog verwandt, kommt von dem griechischen Wort dialegesthai, das so viel wie sich unterhalten, miteinander reden, etwas durchbesprechen bedeutet. Ihre philosophische Premiere hat die Dialektik in diesem dialogischenDialog, dialogisch, Dialogizität Sinn in PlatonsPlaton Schriften erfahren. Der DialogDialog folgt immer dem Schema von Rede und Gegenrede. Er ist aber zugleich eine Art von Unterrichtsmethode, die der Platonische Sokrates benutzt, um seinen Schüler, aber auch seine Kritiker zu belehren. Der Ausgang des jeweiligen Dialoges steht dabei von vornherein fest: Die Widerlegung der möglichen Einwände und Argumente ermöglicht es dem Platonischen Sokrates am Ende, seine eigene Position zu illustrieren.
Im Gegensatz zur Platonischen DialektikDialektik ist jene HegelsHegel, Georg W.F. keineswegs dialogischDialog, dialogisch, Dialogizität. Dialektik ist hier nicht bloß eine Form des Denkens, sondern wird vornehmlich als eine StrukturStruktur, strukturiert, strukturell der natürlichen oder geschichtlichen Wirklichkeit selbst begriffen. So taumelt gleichsam das anfänglich seiner selbst nicht bewusste SubjektSubjekt in der PhänomenologiePhänomenologie des Geistes durch ein System von Widerständen (Anti-Thesen) zu immer neuen Synthesen empor, denen immer wieder neue Antithesen gegenüberstehen, bis es dann den Gipfelpunkt des absoluten Daseins als Geist schlechthin erreicht. HegelsHegel, Georg W.F. Philosophie ist eine spezifische Variante jener großen ErzählungenErzählung(en), von denen LyotardLyotard, Jean F. in seinem BuchBuch (als Medium) über die condition postmodernePostmoderne, postmodern14 spricht: Es handelt sich um eine große Erzählung, eine BildungsgeschichteBildungsgeschichte des Menschen, eine Art von philosophischer Autobiographie des Mega-Subjekts Menschheit (→ Kap. 13).
AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max beziehen sich zwar auf HegelsHegel, Georg W.F. Begriff der DialektikDialektik als einer Bewegung in der GeschichteGeschichte, aber sie drehen dessen Bedeutung radikal um. Die Dialektik verliert ihre positive Konnotation, wird zu einer Verfehlung, zu einer Umkehrung, zu einem Umschlag ins Negative – ohne versöhnliche Synthese. Zu einer Dementierung, ja Selbstdementierung der großen ErzählungErzählung(en) von BildungBildung und FortschrittFortschritt:
Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch geht in die AufklärungAufklärung, aufklärungs- über und die NaturNatur in bloße Objektivitätobjektiv, Objektiv-. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer MachtMacht mit der EntfremdungEntfremdung von dem, worüber sie MachtMacht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die DingeDinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von HerrschaftHerrschaft.15
HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. spitzen diesen Sachverhalt noch insofern zu, als sie davon ausgehen, dass die moderneModerne, modern, -moderne kapitalistischeKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Kultur die Menschen verdinglicht, also zu Dingen macht, die fast beliebig „gemacht“ und „manipuliert“ werden können. Wenn sie behaupten, dass der Mann der Wissenschaft – analog zur Logik der kapitalistischen Ökonomie – die „DingeDinge an sich“ zu Dingen „für ihn“ macht, dann spielt das auf ein Grundmuster in HegelsHegel, Georg W.F. DialektikDialektik an, auf die Bewegung des An sich zum – höheren