Kulturtheorie. Wolfgang Müller-Funk
Gedankenfigur, die FreudFreud, Sigmund in diesem Text entwickelt, hat durch die globalenGlobalisierung, global Ereignisse der Corona-Pandemie 2020/2021 eine überraschende Aktualität erfahren. Denn die Konflikte, denen sich gerade demokratischeDemokratie, demokratisch Kulturen gegenübersehen, hängen damit zusammen, dass sie, wie von den Bürgerinnen und Bürgern auch erwartet, Sicherheit und Schutz durch entsprechende Maßnahmen herzustellen versuchen, die wiederum die Freiheit der Menschen eklatant, wenn auch im Rahmen bestehender Gesetzgebung einschränken. Dieser Tausch, Sicherheit gegen Einschränkung, wird nicht von allen akzeptiert. Jene, die dagegen protestieren, haben dieses Unbehagen zwar nicht erfunden, machen es aber durch ihre Verweigerung des ‚Deals‘, die in diesem Fall auch eine der ReflexionReflexion ist, manifest. Interessant ist, wie dieses Unbehagen, das etwa zu Anfang von ‚linken‘ Philosophen wie Giorgio Agamben formuliert wurde, in den meisten Ländern ganz weit nach Rechts gewandert ist, wie die sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen sinnfällig gemacht haben. Insofern wirft die Corona-Krise ein scharfes Licht auf unsere modernenModerne, modern, -moderne Kulturen und zugleich auf die Hellsichtigkeit von FreudsFreud, Sigmund ambivalenter Analyse.
Literatur
Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/Main: Fischer 1994.
Freud, Sigmund Das Unbehagen in der Kultur, Gesammelte Werke, herausgegeben von Anna Freud, Bd. 14, Frankfurt/Main: S. Fischer 1999, S. 419–506.
Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, herausgegeben und kommentiert von Wolfgang Müller-Funk, Wien: Vienna Univ. Press 2016.
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Müller-Funk, Wolfgang, Theorien des Fremden, Tübingen und Basel: Francke/UTB 2016, S. 73–92.
Schülein, Johann August, Das Gesellschaftsbild der Freudschen Theorie, Frankfurt/Main: Campus 1979.
Kapitel 3 Philosophische Grundlagen der KulturanalyseKulturanalyse: Ernst CassirersCassirer, Ernst Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische
Offenkundig fällt es nicht leicht, den Gegenstand kultureller Forschung zu bestimmen. Ähnliches gilt wohl auch für ihre Methodologie, d.h. für das theoretische Rüstzeug, das Instrumentarium der Analyse und Interpretation kultureller Phänomene. Im Prinzip teilt sie das Schicksal der Literaturwissenschaft, deren Spektrum hermeneutischeHermeneutik, hermeneutisch, strukturalistische und semiotische, diskurstheoretische, dekonstruktivistische und poststrukturalistische Richtungen, Positionen und Ansätze umfasst. Die Situation kompliziert sich indes durch die VielfaltVielfalt und HeterogenitätHeterogenität, heterogen von Themen und disziplinären Zugängen. Zudem lassen sich Kulturwissenschaft bzw. Kulturwissenschaften formal auch dadurch bestimmen, dass sie sich nicht auf das MediumMedium der Schrift beschränken, sondern visuellevisuell, auditive und vor allem synästhetische MedienMedien, Medien-, -medien, medien-, die BildBild, Schrift und Ton miteinander verknüpfen, umfassen. Das gilt für die Wahl der Objekte wie für die Form der Darstellung.
Wenn es also keine einheitlich verbindliche Methodologie gibt, so heißt das nicht unbedingt, dass es nicht erkenntnistheoretische Grundlagen der Kulturwissenschaften geben könnte. Einen solchen bislang einzigartig gebliebenen Versuch hat der deutsche Philosoph Ernst CassirerCassirer, Ernst in seinem kompendialen Werk Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische vorgelegt. CassirersCassirer, Ernst Einfluss auf die heutige kulturwissenschaftliche Forschung ist schwer abzuschätzen: Er ist vielleicht kein Diskursbegründer von vergleichbarer Mächtigkeit wie FreudFreud, Sigmund oder FoucaultFoucault, Michel. Immerhin sind die Verbindungslinien zwischen der Theorie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) und BourdieusBourdieu, Pierre Konzept der sozialen FeldFeld (soziales)er (→ Kap. 9) und LotmansLotman, Jurij SemiotikSemiotik (→ Kap. 16) unübersehbar. Außer Zweifel steht auch der enge theoretische Konnex, der zwischen CassirersCassirer, Ernst und Aby WarburgsWarburg, Aby Erneuerung der Kunstgeschichte besteht,1 wie Letzterer sie in seinem berühmten Mnemosyne-Atlas entfaltet hat.2 CassirerCassirer, Ernst wird nicht selten auch als Vorläufer der linguistischen Wende (linguistic turn) verstanden. An seine erkenntnistheoretische Position lässt sich denn sowohl aus semiotischer wie auch aus hermeneutischer Perspektive anschließen. Sein Beitrag zur Kulturtheorie kann vorab als eine Denkbewegung beschrieben werden, die Kulturwissenschaft aus der Erkenntnistheorie und über sie hinaus systematisch zu denken sucht und die auf verblüffende Weise KantsKant, Immanuel transzendentalen IdealismusIdealismus (philosophisch) mit der kulturellen Wende verbindet und zusammenbringt. Kulturwissenschaft beginnt nämlich nicht erst mit der Analyse kultureller Phänomene, sondern das wissenschaftliche Denken selbst ist bereits eine Form kulturellen Tuns. Oder um CassirersCassirer, Ernst Terminus zu verwenden: eine symbolische Form. CassirersCassirer, Ernst Kulturphilosophie ist nicht denkbar ohne jene Renaissance des Kantischen Denkens, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzt und mit der Marburger SchuleSchule und deren wichtigsten Repräsentanten Paul Natorp und Hermann Cohen3 verbunden ist. Ziel dieser Denkschule war die Neuformulierung der Philosophie KantsKant, Immanuel angesichts der dynamischen Entwicklung der modernenModerne, modern, -moderne Naturwissenschaften. Vor und zum Teil parallel zum Positivismus wird hier der Versuch unternommen, Philosophie noch einmal als eine Meta-Theorie der Wissenschaften zu konzipieren. Die Philosophie der symbolischen Formensymbolisch (allgemein) erschien 1928, kurze ZeitZeit vor Sigmund FreudsFreud, Sigmund Unbehagen in der Kultur, gut zehn Jahre nach WittgensteinsWittgenstein, Ludwig Tractatus (1917), fast zeitgleich mit Martin HeideggersHeidegger, Martin Sein und Zeit (1927), und beinahe parallel zu Aby WarburgsWarburg, Aby Theorie der KunstKunst, Kunstwerk.
Ernst CassirerCassirer, Ernst (1874–1945), mit dem Kunstsammler Paul CassirerCassirer, Ernst verwandt, wurde als erster jüdischer Gelehrter zum Professor für Philosophie an die Universität Hamburg (1919) berufen. Später lehrte er in Berlin und Marburg. Berühmtheit erlangte er auch als Kontrahent HeideggersHeidegger, Martin in der berühmten Davoser Debatte (1929).4 1933 ging er ins Exil, sein Spätwerk hat er auf Englisch verfasst.
Er beschäftigte sich zunächst mit Grundfragen der Erkenntnistheorie in den modernenModerne,