CHANGES. Группа авторов

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experimentellen Zone, das andere im Konzertsaal. Online hat Cox bereits Projekte durchgeführt, die solche Unterscheidungen aufheben, indem sie ihre eigenen, virtuellen Akustikräume erschaffen. So präsentierte er kurz nach seinem Besuch in Berlin in Zusammenarbeit mit dem ISSUE Project Room eine 90-minütige Arbeit namens The Sound of Listening, die das Publikum zum Besuch diverser „Räume“ einlädt, in denen sich verschiedene musikalische Aktivitäten abspielen. Dabei herrscht eine nachdenkliche Stimmung, die frei schweifenden Gedanken viel Raum gibt: Das Eröffnungssolo der Bassistin Kathryn Schulmeister etwa wirkt wie eine rastlos suchende Meditation. Weitaus hektischer wirkt Breathing, eine Art Video-Arie, die Cox im November für die „Songbook“-Reihe der Long Beach Opera aufnahm. Der Schwarze Bassbariton Derrell Acon singt dabei mit vor Schmerz und Wut gebrochener Stimme, während er durch Stadt- und Waldlandschaften wandert. Am Ende atmet er aus, während Vogelgezwitscher die Tonspur füllt – eine idyllische Wendung, die ihn ebenso zu erstaunen scheint wie die Zuschauer*innen.

      Inmitten der allgemeinen Tendenz zur Ad-libitum-Ekstase bei MaerzMusik – die Veranstaltung mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos schwoll zu einem beeindruckend apokalyptischen Getöse an – bot die Uraufführung von Jürg Freys Streichquartett Nr. 4 eine Oase der konzentrierten Stille. Frey, der aus Aarau in der Schweiz stammt – etwa fünfundvierzig Meilen von Cox’ Heimatstadt Biel entfernt –, schreibt Kammermusik, die dort anzuknüpfen scheint, wo Schostakowitsch aufgehört hat: in einem Bereich, in dem die romantischen Harmonien zu schönen, halbverschütteten Ruinen verkommen sind. Das Streichquartett Nr. 4 ist besonders aufgrund seiner Coda bemerkenswert, in der ein weiches, tiefes Cis mehr als hundert Mal wie eine gedämpfte Uhr auf dem Cello gezupft wird, während Geigen und Bratsche nach geisterhaften Akkorden greifen.

      Das epische Finale des Festivals, die Zeitansage, bot ganz eigene umnebelnde Freuden. Mit dem Titel TIMEPIECE knüpfte es an Ablingers Werk TIM Song von 2012 an. In der ersten Stunde trat Lewis selbst als Rezitator auf; einige Stunden später begleitete das Quatuor Bozzini die Rezitator*innen mit Michael Oesterles Consolations, das der Stimmung nach Freys Quartett nicht unähnlich ist. Weit nach Mitternacht übernahm dann die irische Komponistin und Performerin Jennifer Walshe die Sendung und sorgte, ganz nach ihrer Gewohnheit, für Verwirrung. Sie stellte auf die Dublin-Zeit um, die seit 1916 nicht mehr gilt, und wich mit Ansagen wie „Beim dritten Glockenschlag wird es arsch Uhr sein“ vom Drehbuch ab. Vor allem aber war es faszinierend, die Uhrzeit in so vielen Sprachen zu hören – eine Vielfalt, die von der Weltoffenheit Berlins zeugt. Dem deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder zufolge sollten die verschiedenen Kulturen der Welt auf ihre Eigenheiten stolz sein und gleichzeitig nach einer höheren Wahrheit in der gemeinsamen Menschlichkeit suchen. Für ungefähr einen Tag schien diese Utopie Wirklichkeit zu werden, denn die Menschen vieler Nationen waren sich zumindest in einem Punkt einig: der Zeit.

      Alex Ross ist Musikkritiker und schreibt seit 1996 für The New Yorker. Der Beitrag „The Sonic Extremes of the MaerzMusik Festival“ (Die klanglichen Extreme des MaerzMusik-Festivals) ist zuerst am 19. April 2021 unter dem Titel „The Noise of Time“ (Der Lärm der Zeit) in der Printausgabe von The New Yorker erschienen.

      36 PUNKTE ZUM MASSLOSEN SCHAFFEN UNSERER WERKE

      Signa Köstler

      Liebe Kolleg*innen,

      ich wurde gebeten, heute und hier einen Impuls zu geben. Ich habe die ehrenwerte Aufgabe, Mut zur Maßlosigkeit einzuflößen.

      Ich muss mich in Zeiten wie diesen an Schriftsteller*innen wie Georges Bataille klammern und erkennen, dass (ich zitiere) „unser bestimmendes Moment der Überfluss ist, die Überfülle an Energie, und unser Ausgangspunkt ist die Sonne, die nichts als Verschwendung ist“.

      In meiner Vorstellung fordert die Kunst an sich eine Grenzenlosigkeit.

      Gegenüber dieser Forderung fühle ich mich gering, denn das Grenzenlose hat keinen Meister und seine Arbeit ist nie vollendet.

      Es ist gänzlich unbequem, das Unmögliche zu begehren, aber das Mögliche erbleicht im Vergleich.

      Das maßlose Schaffen ist eine ungesunde Besessenheit, egal, unter welchen Bedingungen, und ja, unsere Leidenschaften beuten uns aus und werden uns schließlich fressen, aber sind sie nicht das schönere Raubtier als die Biester, die uns sonst erbeuten?

      Also 36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke:

      1.Wir müssen unsere Werke an der äußersten Front aufbauen. Die Grenzen sind zu verletzen.

      2.Wir müssen mit Verlusten rechnen, denn schädliche Elemente dürfen nicht verbannt werden. Wer am Messer leckt, zerschneidet sich die Zunge.

      3.Unser Blick muss bis über den Überblick hinaus reichen, um sich dort zu verlieren. Wir haben keinen Anspruch darauf, unser Werk vollends zu kennen.

      4.Wir schaffen mit vollstem Ernst. Auch wenn es lächerlich erscheint.

      5.Wir müssen uns weder erklären noch rechtfertigen. Wir müssen auch gar nicht dazu imstande sein.

      6.Wir dürfen uns pathetisch im schlechten Geschmack suhlen, denn was das heißt, weiß eh keiner.

      7.Wir sind verpflichtet und verdammt zum maßlosen Schaffen. Keine Ruhe, keine Vollkommenheit, keine Erlösung … Weiter.

      8.Das Werk muss um jeden Preis geschaffen und durchgeführt werden. Ohne Verspätung und ohne Beschränkung.

      9.Wenn die Zeit knapp wird und Verstärkung fehlt, müssen wir Medikamente nehmen.

      10.Wir müssen alle Aspekte des Werks in seiner Produktion und Präsentation kennen und unseren Einfluss gelten lassen. Unseren Produzenten müssen wir drohen, wenn sie uns beschränken. Unsere Dramaturgen müssen wir würgen, wenn sie uns durchkreuzen.

      11.Wir bauen ein Modell, 1:1, akribisch bis ins letzte Detail. Mit Küche, Klo und Schlafzimmer.

      12.Wir stecken unser Bühnenbild in Brand, wenn es notwendig ist.

      13.Wir archivieren alle unsere Spuren und schießen Millionen Fotografien.

      14.Wir schreiben die Geschichte wie ein Gen, denn sie hat sich zu entfalten. Unvorhersehbar und ohne Drehbuch.

      15.Die Fiktion ist unzerbrechlich und endet nie. Die Realität ist sowieso ein Irrtum.

      16.Immer müssen 53 Handlungen gleichzeitig geschehen. Zwar miteinander verbunden, aber nicht auf einmal wahrzunehmen.

      17.Weil die Kunst ein Ausnahmezustand ist, verlangen wir volle, unbedingte Konzentration und stetige Wachsamkeit vom Publikum.

      18.Unser Anliegen ist mit dem Alltag des Publikums unvereinbar. Es fordert gänzlich seine Freude und überlässt sie der Langeweile und dem Unbehagen.

      19.Das Publikum wird die Treppen auf und ab gejagt, und in einen Raum nach dem anderen. Denn wer den Weg verliert, lernt ihn kennen.

      20.Wir müssen beim Publikum betteln und drängen, um seine Haare, Nägel und Körperflüssigkeiten zu erlangen. Auch diese sind zu archivieren.

      21.Wir müssen das Publikum beschenken und ernähren. Wir müssen in seine Gläser spucken. Wir lassen sie auch wetten, aber wir behalten den Gewinn.

      22.Wir müssen das Publikum berühren, und manchmal auch schlagen.

      23.Das Publikum muss in unseren Werken schlafen. Ihr Schlaf muss überwacht werden.

      24.Wir müssen das Publikum (das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum) zu Hause und bei ihrer Arbeit aufsuchen.

      25.Wir schulden dem Publikum das Maßlose.

      26.Wir müssen bis zur Erschöpfung spielen. Tage, Wochen, Monate ohne Pause. Jeder Augenblick zählt in der fanatischen Verzweiflung des Werks.

      27.Schmerz, Müdigkeit, Harndrang,


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