Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg
es absolutistisch nicht weiterging und die untern Wünsche mit Gewalt nicht auszurotten waren. Dafür gebührt ihm eigentlich in den Schullesebüchern ein mindestens so ehrendes Andenken wie dem offiziellen Kantonsgründer Müller-Friedberg.
Nun ja. Es lastet allzu vieles auf meinen fragilen Schultern, und diese vermaledeite Rolle, nämlich dort auszurufen, wo andere schweigen, diese Delegation des Aufmuckens, ist mit der demokratischen Tradition unvereinbar, denn jeder sollte können dürfen, und wird unsereiner ähnlich vereinnahmt und einseitig fixiert wie die Intellektuellen in der weiland ddr, wo sie oft nur noch als Ventile funktionieren mussten und Wünsche transportierten, welche das kommune Volk nicht äussern durfte. Diese Arbeitsteilung zwischen den schweigenden Unterdrückten und den gepflegt Aufschreienden zementiert nur die Unterdrückung und bedrückt am Ende beide und zwingt die Intellektuellen, ständig in die Öffentlichkeit gehen zu müssen, so dass ihnen keine Zeit mehr bleibt für eine ruhige Entwicklung. Das kann sich für die schriftstellerische Arbeit mindestens so katastrophal auswirken wie die Abstinenz von jeder Politik, der Innerlichkeitswahn. Und diese Rolle des designierten und akkreditierten Ausrufers geht sogar mir, Meienbergs stuntman, auf den Wecker. Wobei ich dann, doch wieder verzweifelt, weil da nur Unrecht ist und keine Empörung, die alte Rosinante satteln muss.
Derweil sitzt Meienberg I., der eigentliche, den ich periodisch besuche, still in einem alten Fauteuil und meditiert und gestattet sich ein paar ausführliche Depressionen, die er manchmal auch formuliert, etwa so –
Eigentlich
bin ich mir längst abgestorben
ich tu noch so, als ob
Atemholen, die leidige Gewohnheit
hängt mir zum Halse heraus
Mein Kadaver schwankt unsicher
auf tönernen Füssen
die wissen nicht
wohin mit ihm
Oder er erinnere sich, so sagt er, an Clemens Brentano und liest wieder Brentano, und es gefällt ihm besonders der «Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe», und er schreibt:
Genossen. Von Geniessen ist bei euch
keine Spur
ihr meldet euch nur
wenn ich in eure Agenda pass
wenn ihr mich plant
wenn ich veranstaltet werde. Schöner
Artikel gefällig
was darf es sein diesmal
vielleicht wieder
einer meiner
beliebten Aufschreie gegen die Hartherzigkeit der
Bourgeoisie
Freunde
Freunde? Es ist schon schön
gebraucht zu werden
ihr braucht aber nur
einen Teil von mir
der Rest verreckt
der grössere Teil
Fürs nächste Podiumsgespräch
schick ich euch
eine Podiumsgesprächspezialanfertigung
von mir. Ambulanter Kopf direkt
montiert auf Bein. Kutteln Herz Gekröse Galle Sonnengeflecht
sämtliche Innereien
bleiben daheim. Kompaktmodell
es ist
verreckt mit euch bin ich
ein Gebrauchsgegenstand eine alternative
War manchmal
vergeht ein Jahr man hört
obwohl mein Telefon lauthals kräht
keinen Ton von euch ich meine
von eucheucheucheucheuch nicht von eurer
verfluchten Funktion in der ihr ganz
begraben seid wie ich
in meinem eigenen
Sarkophag. Ihr wir hoffnungslosen linken
Aktenköferli
Als er dann seine Gedichte publizierte, wurden sie ein Erfolg – aber leider nur jene, die sich nach aussen richten und die Öffentlichkeit bedienen und manchmal die Sau ablassen, obwohl es doch viele andere Töne in diesem Gedichtbuch hätte, die man auch hören könnte, und darauf gestattete er sich wieder ein paar ausführliche Depressionen und musste dann konstatieren, dass auch von seiner Prosa meist nur das Harte zur Kenntnis genommen wurde, Meienberg-on-the-Rocks, und die Texte, welche nicht ins Empörer-Schublädchen passten, unters Eis gingen. Die Geschichte von Maurice Bavaud etwa, nach einer zweijährigen Recherchierplackerei in dreimonatiger Klausur geschrieben, sei ganz unter den Tisch gefallen, weil sie kein Identifikationsangebot enthalten habe und nicht einer ideologischen Linie entlang geschrieben worden sei, ein voller Misserfolg punkto Verkauf und Besprechungen, der schweizerische Hitler-Attentäter war leider nicht links, und das musste der Wahrheit zuliebe geschrieben werden. Dem entsprechenden Film ging es auch nicht besser. Die Leute erwarteten eine zweite Ernst-S.-Landesverräter-Geschichte mit klaren Verhältnissen und Klassenkampf-Folie, und die war für Bavaud halt so nicht vorhanden (während sie bei Ernst S. tatsächlich stimmte). Aus den Depressionen, sagt mir Meienberg I., werde er dann allerdings herausgerissen, wenn er in seiner Fiche lese unter dem Datum des 17. 11. 78:
v. + Bundesarchiv: Kopie Schreiben an Villi Hermann 41 und M. betr. Akteneinsichtsgesuch des Villi zum Fall Bavaud Maurice 16.
Und also feststellen muss, dass im Bundesarchiv ein Spitzel sitzt, welcher das Akteneinsichtsgesuch, einen Teil der wissenschaftlich-historischen Arbeit, direkt an die Bundespolizei weiterleitet; vermutlich, damit sich diese Herren historisch weiterbilden können. Da kann der depressive M. dann seine selbstzerstörerischen Energien wieder kurz nach aussen ablenken und den letzten Vers aus einem bekannten Werk zitieren, das in seiner althochdeutschen Fassung von anno 790 in der Stiftsbibliothek aufbewahrt ist; und rezitiert dieses dann, wenn er in Versuchung kommt, dem Hauptquartier der Schnüffler mit Sprengstoff aufzuwarten, und sagt:
enti ni unsih firleiti in khorunka/und führe uns nicht in Versuchung
uzzer losi unsih fona ubile/sondern erlöse uns von dem Übel.
PS I: Aus dem Bericht des «Tages-Anzeigers» vom 26.11.1990 über die Preisverleihung in St. Gallen: «Seine Erinnerungen an die Kindheit, … seine Schulzeit in der Katholischen Sekundarschule der Stadt, ‹Flade› genannt, das alles sind in der Rückschau schon eher nostalgische, fast liebevolle Texte.»
Wirklich?
PS II:
St. Gallen, den 23. November 1990
Sehr geehrter Herr Meienberg,
Letzthin habe ich im Fernsehen eine kurze Sendung über Sie im Zusammenhang mit dem Kulturpreis der Stadt Sankt Gallen gesehen. So viel ich mich erinnern kann, haben Sie sich auch über die sogenannte «Flade» geäussert. Ich glaube sie hatten nicht die beste Meinung über diese Schule. Unter anderem fiel auch das Wort Psychoterror. Wie recht Sie doch haben mit Ihren Äusserungen, denn auch ich musste in diese Schule und habe fast nur negative Erinnerungen. Es gab damals glaube ich einen Lehrer xy. Ich war damals noch ein unverdorbener Bub. Ich fragte mich in jener Zeit nur immer, warum wohl eben dieser Lehrer uns vielen, darunter auch mir oft mit seiner fleischigen Hand, man trug damals noch Kniehosen, einem immer die Oberschenkel knutschte während der Stunde. Wir waren noch alle so dumm, dass wir dies zu Hause nicht einmal erwähnten. Dafür musste man jeden Mittwoch und Freitag in die Frühmesse. Wir wohnten damals an der Ulrich-Rösch-Str. und ein Tramabonnement oder ein Velo gab es damals halt noch nicht, und wehe, wenn mal man in der Messe gefehlt hat. Und wie musste man damals alle 4 Wochen zur Beichte. Zu jener Zeit war im Beichtstuhl oft ein Pfarrer oder Domvikar Brülisauer, der sich