Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg


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Humor, und besonders seine schwarze Variante, entsteht bekanntlich aus genauem Hinschauen, aus exakter Beschreibung von Menschen und Situationen. Siehe Flaubert oder Frisch. Das Gegenteil der Präzision, idealistisch-ungenaues Schreiben und Filmen, die Degradierung von Personen zu Ideenkleiderständern, produziert scheppernde Pathetik, das Gegenteil von echtem Pathos, also eine Form von Kitsch, d.h. unfreiwilligen Humor. Diesbezüglich haben die beiden Autoren neues Terrain erschlossen.

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      Aber vielleicht darf man vom Wirklichkeitsbezug bei Walter & Koerfer wirklich nicht reden, sie haben jede Kritik mit der Bemerkung, sie seien keine Dokumentaristen, abgeschmettert. Dummerweise.

      … und jetzt noch ein Wort über Flaubert: (aus dem Vorwort zu «TROIS CONTES», Flammarion 1965): «Er verwandte grösste Sorgfalt darauf, die Fiktion mit höchst exakt recherchierten Einzelheiten glaubwürdig zu machen, er machte sich zur Pflicht, eine Menge historische Details, Sitten und Gebräuche zu überprüfen, und vernachlässigte dabei weder die Geographie noch die Astronomie, noch die sprache des Landes, das er heraufbeschwören wollte. Er befragte ständig die Spezialisten.»

      Inglins Spiegelungen

      Im Hinblick auf Otto F. Walters dickleibigen Roman «Die Zeit des Fasans» (612 Seiten) ist jetzt allenthalben von Meinrad Inglins noch umfangreicherem «Schweizerspiegel» die Rede (1066 Seiten, Ausgabe von 1938). Es ist eine allgemeine Freude darüber im Gange, dass die Schweiz jetzt wieder einen Spiegel vorgesetzt bekommen habe, dem man vertrauen könne wie seinerzeit dem Inglinschen.

      «Otto F. Walter hält in einer geglückten Vermischung von Familiengeschichte und Schweizer Geschichte unserem Lande einen (Schweizer) Spiegel vor», schreibt der «Sonntagsblick», und im TAM konnte man lesen: «Auf ihre Reise in den Süden hat Thom – hat Otto F. Walter – Lisbeth ein Lieblingsbuch mitgegeben, Meinrad Inglins ‹Schweizerspiegel›. Dieser einzigartige Gesellschaftsroman, der einzige, den die Schweizer Literatur dieses Jahrhunderts hervorgebracht hat, unser ‹Krieg und Frieden›, ist das Vor-Bild von Otto F. Walters ‹Zeit des Fasans›, ein Projekt, das die Schweiz erzählen sollte, so erzählen, wie man es heute noch kann.»

      Meinrad Inglins grosser Roman als Gold-Standard, an dem die übrige Literatur gemessen wird, neben dem das andere Münz verschwindet – der «einzige Gesellschaftsroman der Schweizer Literatur dieses Jahrhunderts». Es ist, als ob Ramuz, Adrien Turel, Robert Walser («Der Gehülfe» ist wohl kein Gesellschaftsroman?), Jakob Bosshart, Jakob Schaffner, Diggelmann, Loetscher nicht gelebt hätten, die neu entfachte Inglin-Begeisterung hat sie alle ausradiert, und «Stiller» ist halt auch kein Gesellschaftsroman. Von Gipfel zu Gipfel grüssen sich die Giganten über die Jahrzehnte hinweg, Otto F. Walter salutiert Meinrad Inglin, und über den Gipfeln ist Ruh, und zwischen ihnen sind nur Geröllhalden.

      Einzigartig, allerdings, ist Inglins dickes Buch, auch opus magnum genannt, tatsächlich. Die Gattung «Gesellschaftsroman» erhebt den Anspruch, eine Gesellschaft, bei Inglin die schweizerische von 1912–1918, in ihrer ganzen Breite und Tiefe und ihren Konflikten darzustellen, und der «Schweizerspiegel» hat denn auch «vielen mehr über die jüngste Schweizer Vergangenheit begreifbar gemacht als Schule und Elternhaus» (Lotta Suter). Das ist möglich; die Geschichtsbücher sind eh so langweilig und lückenhaft.

      Aber –

      Was erfahren wir von der wirklichen Gesellschaft 1912–18 im «Schweizerspiegel»? Wie tief hinunter, wie hoch hinauf schweifte Meinrad Inglin? In welcher Schicht hielt er sich auf? Wovon hatte er eine Ahnung oder einen Begriff, und was hat er ausgeklammert? Von welcher Gesellschaft hat er einen Dunst?

      Inglin Meinrad, geb. 1893, kath., Sohn des hablichen alteingesessenen Uhrmachers/Goldschmieds/Dorfpatriziers Meinrad Inglin von Schwyz und der einer Hoteliersdynastie entstammenden Josephine Eberle. Besuch der Mittelschule am Kollegium «Maria Hilf» in Schwyz, Arbeit als Kellner, 1913–14 Universitäten Neuchâtel und Genf, Faculté des Lettres. Freier Schriftsteller mit finanziellen Schwierigkeiten, der Vater ist schon 1906 gestorben (Bergtod). Kampf mit den Verlegern (das Übliche), die meisten frühen Manuskripte werden ihm zurückgeschickt. Nietzscheanische Anwandlungen, Schwärmen für aristokratische Lebensformen («Herr Leutnant Rudolf von Markwald», 1916, «Phantasus»). 1915 Offiziersschule in Zürich, Leutnantspatent. Langer Aktivdienst im Jura, Tessin etc. Redaktionsvolontär am «Berner Intelligenzblatt» (freisinnig) und später an der «Zürcher Volkszeitung». 1922 für kurze Zeit in Berlin; nebst späteren Italienreisen der einzige Auslandaufenthalt. In den Städten ist ihm auf die Dauer nicht wohl, da fehlen ihm z.B. die Gemsjagd und andere Urwüchsigkeiten. 1922 zurück nach Schwyz, das er aber fluchtartig verlassen muss, nachdem sein Roman «Die Welt in Ingoldau» erschienen ist (1922), in welchem sich zahlreiche Eingeborene zutreffend geschildert, d.h. verhöhnt, fühlen. Vorübergehend Asyl in Zürich, wo auch seine zukünftige Frau Bettina, geb. Zweifel, Tochter eines kleinen Bankiers, lebt. (Der Bankier war knausrig mit seinem Schwiegersohn.) Von 1923 sodann bis zu seinem Tod 1971 sozusagen ununterbrochen in Schwyz verharrt, wo er bei einer Verwandten kostengünstig unterschlüpfen konnte. Finanziell knapp über Wasser, den Kopf aber immer patrizisch hoch getragen, nett integriert in der Schwyzer Dorfaristokratie (Gemsch, von Reding). Im 2. Weltkrieg nochmals Aktivdienst als Oberleutnant. 1948 Ehrendoktor der Universität Zürich, darf im Sechseläuten-Umzug mitmarschieren. Wird jetzt in Schwyz nicht mehr als «Herr Oberleutnant» angesprochen, sondern als «Herr Doktor», was er schätzt.

      Von 1932 bis 1938 schreibt er am «Schweizerspiegel». Etwa grad so lang wie Otto F. Walter an seinem ornithologischen Projekt «Zeit des Fasans». Man merkt's.

      Inglins Roman (eben ist er im Ammann-Verlag neu aufgelegt worden), von dem die «Süddeutsche Zeitung» schrieb, er behandle wie in einem PANORAMA die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der Schweiz von 1912–1918, stellt die Familie Ammann in den Mittelpunkt. «Panorama» würde bedeuten, dass die Gesellschaft mit dem Weitwinkelobjektiv erfasst ist, also am oberen Rand die tonangebenden Bankiers, Industriellen, Militärs ins Bild kommen, Figuren wie die Eschers, Schwarzenbachs, Schulthessen, Bodmers, Rieters, Abeggen und ähnliche: und am untern Rand die Anarchisten, Sozialisten, Dadaisten, Refraktäre und Deserteure mit Saft und Kraft geschildert würden. Dem ist aber gar nicht so. Der obere Rand ist abgeschnitten, Inglins Blick vermag nur bis zum mittleren Bürgertum vorzudringen, und das untere Volk ist ein gestaltloses Gebrodel, eine ungeknetete Masse; das Arbeiterquartett Burkhart-Bär-Wegmann-Keller wird dem Leser weder zu Hause in den Wohnungen noch am Arbeitsplatz vorgeführt, und die Sprüche, die sie absondern, quellen ihnen wie Volksrecht-Leitartikel aus den Mündern.

      Fabriken mit ihrem Innenleben gibt es nicht bei Inglin, obwohl Zürich damals längst eine Industriestadt war. Warenhäuser sind nicht vorhanden (Jelmoli florierte seit langem). Von Banken liest man nichts – die Kreditanstalt stand unübersehbar am Paradeplatz. Und die herrschaftlichen Residenzen mit ihren schönbaumigen Riesenwunderpärken, den Stallungen und der Dienerschaft, den glänzenden Empfängen und exquisiten Banketten und den hervorragenden Intrigen sind einfach ausgeblendet.

      Und weil es diese prächtige Grossbürgerwelt bei Inglin so wenig gibt wie die Industriemisere, glaubt Inglins Leserschaft bis heute, es habe sie auch in der Wirklichkeit nicht gegeben. Denn Inglin ist ja, laut «Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart», Ausgabe von 1974, «eine fast monumentale Darstellung der Schweiz im Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines überlegenen Erzählers gelungen, der als Sachwalter des Ganzen in Sicht und Stil dem klassischen Geschichtsschreiber gleicht». Klassisch …

      Wie dieser Inglin-Mythos entstehen konnte, ist rätselhaft (der Mythos von Inglins Panoramablick). Und dass ein gescheiter Kollege wie Martin Schaub allen Ernstes in einer grossen Zeitung behaupten kann, der «Schweizerspiegel» sei mit Tolstois «Krieg und Frieden» zu vergleichen, also mit dem gewaltigen, realistischen Epos des napoleonischen Krieges in Russland, ist noch rätselhafter. Denn seit 1976 gibt es eine detaillierte, kenntnisreiche Inglin-Biographie von Beatrice von Matt, in der man – die Autorin ist übrigens ihrem Dichter sehr gewogen – lesen kann:

      «Eine sehr achtbare Zürcher Familie mit drei Söhnen und einer Tochter steht im Mittelpunkt. Ihre Mitglieder bewegen sich als Repräsentanten innerhalb eines bestimmten helvetischen Durchschnitts.» («Meinrad Inglin. Eine Biographie», Zürich 1976,


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