Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg


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von allen Seiten anzugreifen sucht. Sie schrien nun jedes erdenkliche Schimpfwort heraus und pfiffen gellend durch die Finger, während ihre Nachzügler aus dem Versammlungslokal begierig dahergerannt kamen und sich zu ihnen gesellten.»

      Begierig, wie sie halt sind im Kreis vier, und gellend; gell.

      Bei so vielen giftig sirrenden Wespen kommt es dann notgedrungen zum Landesstreik. Inglin denkt da genau wie General Wille in seinen Denkschriften zuhanden des Bundesrates, die fanatischen Jungburschen und andere Linksextremisten haben die im Grunde patriotisch gesinnte Arbeiterschaft aufgewiegelt. Auch die Putzfrauen werden frech in dieser Zeit, aber Frau Barbara (Ammann) nimmt's gelassen. Die bei Ammanns putzende, mit einem Arbeitslosen verheiratete Putzfrau «lag auf den Knien, die Fegbürste in der Rechten, eine Haarsträhne auf der Stirn, und schaute mit triumphierender Gewissheit zur Hausherrin auf. ‹Es gibt Änderungen, Frau Oberst, Sie werden wohl davon läuten gehört haben›, fuhr sie fort. ‹Von mir aus braucht's Ihnen dabei nicht schlimm zu gehen, Sie waren immer recht zu mir. Aber unsereiner will halt doch endlich auch an die Futterkrippe.›» So frech, dass sie aufhören würde mit Putzen, ist die Putzfrau aber auch wieder nicht.

      Es gibt eine halbwegs emanzipierte Frau im Roman: Gertrud Ammann, die Tochter des Hauses, musisch, sensibel, eigene Gedanken im Kopf und gar nicht zufrieden mit ihrem Mann, dem Instruktionsoffizier Hartmann, Oberstleutnant, der ihre Psyche malträtiert; während er sich äusserlich sehr gluschtig präsentiert, «ein grosser, kräftig schlanker Mann von dreiundvierzig Jahren, in dunkler Reithose, tadellos sitzenden Stiefeln und eng anliegender blauer Uniformbluse, mit einem gesunden, von Luft und Sonne gebräunten Gesicht, dessen Ausdruck in seiner Mischung von sportlicher Derbheit, herrischer Kühle und männlicher Intelligenz nicht nur von guter Abkunft, sondern von wirklicher Rasse zeugte». Der rassige Derbling ist leider im Ehebett, das wird keusch angetönt, ein Brutalnik, und so liegt es denn nahe, dass Gertrud sich in das pure Gegenteil ihres Offiziersgatten verliebt, in den sanften Dichter und Pazifisten Albin. Die Schilderung dieses stillen Wässerleins gelingt dem Epiker Inglin weniger gut als das Offiziers-Konterfei. Albin besteht nicht aus Fleisch und Blut, sondern vor allem aus Ideen (wie auch Gertruds Bruder Paul, der ein bisschen für den Ragazschen Sozialismus schwärmt). Ein typisches Inglin-Dilemma. Eigentlich findet er, theoretisch und als Humanist, den Albin Pfister viel anziehender als den Instruktor; aber die Sprache verrät seine tieferen Sympathien. Sie spielt ihm öfters solche Streiche. Gertrud, nachdem sie sich, zum Entsetzen der Eltern, von Hartmann getrennt hat, kann ihre Liebe zu Albin nicht ausleben, weil dieser im Militärdienst stirbt. An seinem Totenbett bahnt sich ihre Versöhnung mit Mutter Barbara an, und so kehrt sie wieder ein bisschen in den Schoss ihrer Ursprungsfamilie zurück, wie Bruder Fred in den Schoss der Natur im Rusgrund.

      Wenn man sechs Jahre, welch respektable Anstrengung, an einem Roman arbeitet, kapselt man sich von der Welt ab, es geht nicht anders, und kann man vielleicht deshalb die Welt nicht mehr realistisch beschreiben. Muss ein Buch schon deshalb gelobt werden, weil einer so viel Zeit und Schweiss investiert hat? Oder darf man auch noch das Produkt bei Licht besehen? «Der ‹Schweizerspiegel› wurde zu einer Bastion im geistigen Befestigungssystem der Landesverteidigung, ein Roman wurde dienstverpflichtet», schreibt Reinhardt Stumm in der BAZ. Ach wo: Inglin hat sich und seinen Roman selber dienstbar gemacht und in die patriotische Pflicht genommen, er wollte, da musste man ihm gar nichts befehlen, einen «Aufruf zur nationalen Selbstbesinnung» liefern. Darum scheppern seine Dialoge so hohl, wenn Weltanschauliches abgehandelt wird, ein paar hundert Seiten von den 1066 tönen wie staatsbürgerlicher Unterricht. Helm ab zum Gebet! Der Roman behandelt zwar die Grenzbesetzung 14–18, soll aber gleichzeitig die richtige Mentalität für den nächsten Krieg, den man kommen sah, in den Köpfen befestigen – ein Buch im Zeichen des Friedensabkommens. Alle haben ein bisschen recht und alle ein bisschen unrecht, und die Armee hat am rechtesten. Unüberbrückbare Gegensätze gibt es nicht, mit gutem Willen kann der soziale Frieden gesichert werden (wenn man nichts Grundlegendes verändert).

      Der «Schweizerspiegel» erscheint etwa zur selben Zeit wie der Film «Füsilier Wipf», wo die Armee ähnlich verharmlost und politisch neutralisiert wird wie bei Inglin; und Robert Faesi, der die Romanvorlage für den «Füsilier Wipf» verfasst hat, verwendet sich, zusammen mit Carl Helbling, der eine untertänige Wille-Biographie geschrieben hat, für die Verleihung des Grossen Schillerpreises an Meinrad Inglin. Den kriegt er 1948.

      Wie hartnäckig Inglin an der Realität vorbeigeblinzelt hat, wie wenig er vom zürcherischen Grossbürgertum und den Machtstrukturen gesehen hat, obwohl er fast mit der Nase darauf gestossen wurde, wie harmlos die (angeblich das Establishment symbolisierende) Fam. Ammann im Vergleich zu den wirklichen Machthabern war, wird erst deutlich, wenn man bei Beatrice von Matt lesen kann, dass diverse real existierende Personen das Vorbild abgegeben haben für einige Romanfiguren. Es kommt da z.B. ein Instruktionsoffizier Waser vor, im Buch ein straffer, begeisternder, höchst sportlicher Mensch, natürlich ohne Klassenzugehörigkeit, freischwebend, der die Aspiranten wunderbar motivieren kann; völlig unpolitisch, nur für die Liebe zum Vaterland schwärmend. Dieser Waser ist ein Konterfei von Oberst Fritz Rieter, der tatsächlich Inglins Klassenlehrer in der Offiziersschule gewesen war. Der Leser hat keine Ahnung, wo dieser Waser-Rieter wohnt, sein Privatleben findet nicht statt; vielleicht wusste Inglin selbst auch nicht, dass die Villa Wesendonck samt Park, ungefähr die herrschaftlichste Residenz des damaligen Zürich, der überaus begüterten Familie Rieter gehörte (verglichen mit der Villa Wesendonck-Rieter ist die Villa Ammann eine Notwohnung). Rieter wirkte ausserdem als rechtsextremer Agitator. Vermutlich war Inglin in diesen Kreisen nie zum Tee geladen, durfte von dort herab nur Befehle entgegennehmen (dienstlicher Verkehr). Man musste aber schon blind sein oder dann die Realität bewusst verdrängen, wenn man nicht sehen wollte, welch gefährliche Agitation vom deutschtümelnden Fritz Rieter, der später Herausgeber der nazifreundlichen «Schweizer Monatshefte» geworden ist, schon 1914–18 entfaltet wurde.

      Oder hat Inglin seinen ehemaligen Instruktor Waser-Rieter mit Absicht schonend beschrieben? Und ein bisschen freiwillige Geschichtsfälschung betrieben?

      Noch einen andern ganz Bedeutenden hat Inglin als Oberinstruktor gekannt, den Schwager von Fritz Rieter, nämlich Wille II, Sohn des Generals, Hartmann trage Züge von Oberstkorpskommandant Wille, hat Inglin seiner Biographin Beatrice von Matt verraten. Auch hier wieder: Nur der dienstlich-offizielle Wille II kommt einigermassen wirklichkeitsgetreu vor, so wie ihn der Autor als harten, insgeheim bewunderten Offizier erlebt hat. Im Roman geht die Ehe Hartmanns auseinander, in der Wirklichkeit hätte sich Hartmann-Wille II von Ines Rieter, die ihn zum reichen Mann gemacht hat, schon aus finanziellen Gründen gar nicht trennen können.

      Kantig, zackig, aber wiederum unpolitisch, dieser Hartmann. Nachdem er Inglin und seine Kameraden in der Offiziersschule dressiert hat, ist er nachher manchmal beim deutschen Konsul vorbeigegangen und hat ihm geheime Dokumente des schweizerischen Generalstabs ausgeliefert, in Tat und Wirklichkeit. Aber das konnte Inglin nicht wissen, und auch seine Rolle während des Landesstreiks war ihm verborgen geblieben (einer der grössten Scharfmacher: er verlangt bewaffnete Bürgerwehren). Später, während er am «Schweizerspiegel» arbeitete (1932), hätte Inglin allerdings der Presse entnehmen können, dass Wille II im Jahre 1923 Adolf Hitler in der Villa Schönberg bewirtet hatte, und sich vielleicht fragen müssen, wem er denn eigentlich als Aspirant im Jahre 1915 so pünktlich gehorcht hatte.

      Armer Inglin! Lebt in einem rechtsextremen Wespennest, oder mitten im Auge des Hurrikans, hat die krasseste Wirklichkeit vor Augen, die grössten Potentaten, und die Machtverhältnisse werden ihm täglich unter die Nase gerieben, und was macht er daraus? Eine gemütliche Familie Ammann lässt er seinen Roman beherrschen. (Aber natürlich hätte er sein Buch nicht verkaufen können, wenn die wirklichen Verhältnisse im Mittelpunkt gestanden wären.) Ist es übertrieben, wenn man Inglin als literarische Landpomeranze bezeichnet?

      Oberstkorpskommandant Wille, der unterdessen das Ausrottungsprogramm «Kinder der Landstrasse» präsidierte und erfolgreich für Hitler-Deutschland warb, hat den «Schweizerspiegel» sofort nach Erscheinen gelesen und dort drin sich selbst und die Armee so vorgefunden, wie er sie gern sah; und wird sich heimlich einen Schranz gelacht haben über den netten Inglin, dem die Hintergründe vernebelt blieben, und schrieb dem Dichter einen Brief:

      «Meilen, 6. Jänner 1939. Sehr geehrter Herr Inglin, Ihr grossangelegtes


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